onnenflecken Sehen Sie, inzwischen gab es sogenannte harte Zeiten für die
Menschen. Sie haben allerhand Experimente angestellt, wie sie sich gegenseitig
in möglichst großer Anzahl ums Leben brächten. Es ist ihnen auch ganz gut gelungen.
Es hat mich selber überrascht, mit welcher kühlen Systematik
sie ans Werk gingen, ohne die gewöhnlichen sentimentalen Hemmungen. Ja, es war
so neuartig, daß sich wohl mancher täuschen konnte und eine große Idee
dahinter vermutete. Ach, ich liebe Ideen! Dann kam noch der Krieg,
ein planetarischer Krieg sogar, die jungen Leute drängten sich dazu und fielen
zu Millionen, während in ihrem Rücken die Städte zerstört und Frauen und Kinder
unter den Trümmern begraben wurden. Wie gesagt, das alles war sehr neuartig.
Eine reiche Ernte für mich, werden Sie vielleicht denken? Eine mühelose Ernte
gleichsam, Jahre des Segens. Denn es gibt ja auch diese Rolle des Schnitters
für mich. Nun, das stammt aus einem landwirtschaftlichen Zeitalter, und so,
wie Sie mich hier auf dem Sofa sitzen sehen, werden Sie mir wohl schwerlich
zutrauen, daß ich mit einer Sense umzugehen weiß. Halten Sie mich bitte nicht
für zynisch, wenn ich so spreche. Ich gestehe Ihnen im Gegenteil, und meine
Mutter wird Ihnen bestätigen, wie schwer es mir wurde, damit fertig zu werden:
Nichts ist mir widerlicher als diese jüngsten Zeittendenzen. An sich hat es
auch schon früher oft genug Perioden gegeben, wo die Menschen einander in erhöhtem
Maße umbrachten. Stimmt es, ich glaube, man hat herausgefunden, daß es an den
Sonnenflecken liegt? Für mich also wäre es weiter nicht befremdend, wenn einmal
in einer Woche mehr Menschen ums Leben kämen als sonst in einem Jahr. Der Unterschied
ist nur dieser: Man tötete damals und ließ sich auf der Gegenseite töten, weil
man glaubte, es wäre notwendig, um zu leben. Oder für ein besseres Leben. Die
Leute starben als wahrhaft vom Leben Begeisterte. Und so ist es in Ordnung,
mögen die Zeiten auch äußerlich einen unordentlichen und exaltierten Eindruck
gemacht haben. Und diesmal, mein Lieber? Hat es jemals ein geordneteres Zeitalter
gegeben? Und euer Leben, was ist es mehr als ein Nummernaufruf? Ihr brauchtet
nur: Hier! zu rufen und ihr tatet es. Ja, ihr tatet es und wolltet es so. Und
warum? Etwa aus Liebe zum Leben und um es vor Zufällen zu beschützen, das heißt,
um euch gegen mich zu verteidigen? Ach, lügt doch nicht. Es geschah nicht aus
Angst vor mir, sondern aus Angst vor dem Leben. Ich aber hasse diese Widerstandslosigkeit.
- Hans Erich Nossack, Interwiew mit dem Tode.
In: Ders., Die Erzählungen. Frankfurt am Main 1987 (zuerst 1948)