Sonnenfangen  Else lag fast rücklings auf der Tischtennisplatte und reckte und streckte sich und fuhr immer wieder blitzschnell zusammen, als wolle sie sehen, ob sie das Morgensonnengold jetzt zwischen ihren Pfoten habe. Er griff ihr im Vorbeigehen an den flaumigen Bauch, sie nahm seine Hand sofort gefangen und ließ sie, den Regeln gemäß, sofort wieder frei.  - Martin Walser, Das Schwanenhaus. Frankfurt am Main 1982

Sonnenfangen (2) Seine Brüder versprachen Maui, ihm zu helfen, die Sonne zu bändigen. Alle zusammen begannen sie nun, starke Taue zu fertigen, um daraus eine riesige Schlinge zu machen, und mit der wollten sie die Sonne einfangen.

Dabei lernten sie, wie man den Flachs zu starken, vierkanten Tauen verarbeitet, und diese Kunst heißt seither tuamaka. Sie lernten auch, wie man flache Taue herstellt, und das Fertigen von flachen Tauen nennt man seit dieser Zeit paharahara. Obendrein fertigten sie kräftige runde Taue für die Schlinge.

Endlich waren alle Taue fertig und Maui machte sich mit seinen Brüdern auf den Weg, die Sonne einzufangen; Muri-ranga-whenuas magischen Kieferknochen nahm er mit auf die Reise. Die ganze Nacht waren sie unterwegs, und als der Morgen graute, versteckten sie sich, damit die Sonne sie nicht bemerkte.

Des nachts setzten sie ihre Reise fort, und wieder versteckten sie sich im Morgengrauen.

So ging es mehrere Tage, und weiter und weiter gingen sie in Richtung Osten, bis sie schließlich an die Stelle kamen, an der das Land zu Ende war.

Ein steiler Abgrund tat sich vor ihnen auf, und das war die Stelle, wo sich die Sonne jeden Morgen aus ihrer tiefen Höhle erhob.

Sogleich machten sie sich an die Arbeit: Zu beiden Seiten des Abgrundes bauten sie eine lange und hohe Mauer aus Lehm, und an beiden Enden der Mauer bauten sie kleine Hütten aus Zweigen und allerlei Geäst; in diesen kleinen Hütten versteckten sie sich am Tage.

Dann legten sie die riesige Schlinge zurecht, in der sich die Sonne verfangen sollte.

Mauis Brüder legten sich nun auf der einen Seite des Abgrundes auf die Lauer und Maui auf der anderen. Und während Maui den Brüdern letzte Anweisungen gab, hielt er den magischen Kieferknochen fest in seiner Hand: »Gebt acht!« sprach er, »bleibt in eurem Versteck, und seht zu, daß euch die Sonne nicht sieht, denn sie wird sich bei eurem Anblick erschrecken!

Wartet, bis sie mit Kopf und Armen in der Schlinge steckt! Wenn ich euch dann rufe, dann müßt ihr die Schlinge so fest wie möglich zuziehen! Ich werde dann aus meinem Versteck kommen und sie angreifen.

Haltet die Taue so lange wie eben möglich straff, solange, bis die Sonne fast tot ist; dann erst wollen wir sie wieder freilassen! Und merkt euch, egal wie sehr sie auch schreien mag, laßt euch nicht abbringen von eurer Aufgabe!« So sprach Maui zu seinen Brüdern, bevor sich alle versteckten, um darauf zu warten, daß sich die Sonne aus ihrem Verlies erhob.

Schließlich ging sie auf - ein Feuerball, der sich weit über Berge und Wälder erhebt, so stieg sie langsam empor — und ihr Kopf ging tatsächlich durch die Schlinge, und dann auch ihr Oberkörper, ihre Schultern, ihre Arme! Just in dem Augenblick zogen die Brüder die Taue mit aller Kraft straff, ganz so, wie Maui es ihnen gesagt hatte; und die mächtige Sonne drehte und wendete sich und versuchte verzweifelt sich zu befreien, aber umsonst! Sie war gefangen! Da kam Maui aus seinem Versteck hervor mit seiner magischen Waffe, dem Kieferknochen der Ahnin, und gnadenlos schlug er auf die Sonne ein. Die schrie voller Schmerz auf, Maui ließ jedoch nicht nach: erbarmungslos schlug er weiter auf sie ein, und all ihr Heulen und Wimmern erweichten ihn nicht.

Endlich, nach langer langer Zeit, als die Sonne längst schwach war und fast keinen Widerstand mehr leistete, ließ Maui sie wieder gehn; und gezeichnet von all den Wunden, die Maui ihr beigebracht hatte, machte sich die Sonne schleppend auf ihren Weg - langsamer als je zuvor. Bis heute aber ist ihr Lauf langsam geblieben.  - Märchen aus Neuseeland. Überlieferungen der Maori. Hg. und Übs. Erika Jakubassa. Köln 1985 (Diederichs, Die Märchen der Weltliteratur)

 

Sonne Fangen

 

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