Sohn, verlorener  «Mir soll nur keiner mehr was erzählen von wegen ‹Verbrechen zahlt sich nicht aus›.» Grave Digger stand auf.

«Ihr kennt doch die Geschichte vom verlorenen Sohn», erinnerte Anderson.

«Ja, kennen wir. Aber kennen Sie die Geschichte von dem gemästeten Kalb?»

«Was war mit dem gemästeten Kalb?»

«Als der verlorene Sohn zurückkehrte, konnten sie das gemästete Kalb nicht finden. Sie suchten überall, aber schließlich gaben sie es auf und gingen zu dem verlorenen Sohn, urn sich zu entschuldigen. Aber als sie dann sahen, wie fett der geworden war, haben sie ihn geschlachtet und an Stelle des gemästeten Kalbs gefressen.»

«Aha. Und darum sollt ihr dafür sorgen, daß unserem verlorenen Sohn das nicht passiert», erklärte Anderson todernst.   - Chester Himes, Schwarzes Geld für weiße Gauner. Reinbek bei Hamburg 1967

Sohn, verlorener (2) Gengenbach ist Pater bei den Jesuiten in Paris, verliebt sich in eine Schauspielerin vom Odeon, zeigt sich mit ihr in Restaurants und Tanzlokalen. Seine Oberen weisen ihn aus dem Orden. Seine Geliebte verläßt ihn. Er bedeutete ihr nur etwas, solange er die Soutane trug. Zufällig kommt ihm eine Nummer der ‹Révolution surrealiste› in die Hände, gerade als er mit sich rang, ob er sich nicht umbringen sollte. Er ertränkt sich also nicht im See von Gerardmer, wohin er sich eigens zurückgezogen hatte, um das finstere Vorhaben auszuführen, sondern nimmt Verbindung mit Breton und seinen Freunden auf. Er verkehrt nun wieder im Dôme, in der Rotonde, eine Nelke in einem der Knopflöcher der Soutane, die er aus Trotz und um den Leuten das Maul aufzureißen, wieder trägt, eine Frau auf dem Schoß. Die Biedermänner regen sich auf, stellen ihn zur Rede, rempeln ihn an. Aber das macht ihm gerade Spaß, er hatte es doch nur darauf angelegt, die Tugendbolde zu schockieren. Sein Leben hat drei zyklisch wiederkehrende Gesichter: eine Zeitlang treibt er sich in anrüchigen Lokalen herum, eine Zeitlang pflegt er der Ruhe im Hause einer russischen Künstlerin in Clamart, dann wieder zieht er sich zu Exerzitien in die Benediktinerabtei Solesmes bei Le Mans zurück. Jene, die gewähnt hatten, der verlorene Sohn kehre doch wieder in den Schoß der alleinseligmachenden Kirche zurück, belehrt Gengenbach in einem Brief an Breton eines Besseren:

Ich pflege mich mehrmals jährlich bei den Mönchen zu erholen und wieder auf den Damm zu bringen ... In Surrealistenkreisen kennt man ja meine Manie, öfter plötzlich zu verschwinden und in Klöster auszureißen . . . Den Priesterrock trage ich derzeit nur aus einer Kaprice heraus und auch, weil mein anderer Anzug zerrissen ist ... das geistliche Gewand macht es mir übrigens leichter, mit Amerikanerinnen, die mich nachts in den Bois (de Boulogne) schleppen, sadistische Spiele zu mimen ... Ich habe keine Lösung, keinen Ausweg, keine erträgliche Weise, im Alltagsleben weiterzumachen, gefunden. Ich habe bloß noch meinen Glauben an Christus, Zigaretten und die paar Jazzplatten, auf die ich verrückt bin — ,Tea for two', ,Yearning' ~- vor allem aber den Surrealismus.

Mit diesem merkwürdigen Burschen nimmt es aber doch ein schlimmes Ende. Zunächst sucht er Christentum und Surrealismus unter einen Hut zu bringen, schreibt Bücher wie Judas où le Vampire surrealiste, 1930, und Satan en Espagne. Doch dann sieht er plötzlich in Breton eine neue Fleischwerdung Luzifers und verschreit die Surrealisten als ihres Zustands voll bewußte, von Dämonen Besessene oder menschgewordene Därnonen. Schade, daß es heute keine Teufelsaustreibungen wie im Mittelalter mehr geben darf, geifert er. Er hoffe aber, daß Leid, Leiden, Schicksalsschläge und tragische Konflikte diese von der Hölle ausgesandten Conquistadoren noch so mürbe machten, daß sie eines Tages vor dem Kreuz des Heilands niederfielen. Leider wird keinerlei theologische Beweisführung einen Surrealisten überzeugen; nur die Liebe einer Heiligen vermöchte einen Surrealisten, falls er sie leidenschaftlich begehrt, zu wandeln.   - Maurice Nadeau, Geschichte des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg 1986 (zuerst 1945, re 437)

Sohn, verlorener (3)  Man wird mich schwer davon überzeugen, daß die Geschichte des verlorenen Sohnes nicht die Legende dessen ist, der nicht geliebt werden wollte. Da er ein Kind war, liebten ihn alle im Hause. Er wuchs heran, er wußte es nicht anders und gewohnte sich in ihre Herzweiche, da er ein Kind war.

Aber als Knabe wollte er seine Gewohnheiten ablegen. Er hätte es nicht sagen können, aber wenn er draußen herumstrich den ganzen Tag und nicht einmal mehr die Hunde mithaben wollte, so wars, weil auch sie ihn liebten; weil in ihren Blicken Beobachtung war und Teilnahme, Erwartung und Besorgtheit; weil man auch vor ihnen nichts tun konnte, ohne zu freuen oder zu kränken. Was er aber damals meinte, das war die innige Indifferenz seines Herzens, die ihn manchmal früh in den Feidem mit solcher Reinheit ergriff, daß er zu laufen begann, um nicht Zeit und Atem zu haben, mehr zu sein als ein leichter Moment, in dem der Morgen zum Bewußtsein kommt.
Das Geheimnis seines noch nie gewesenen Lebens breitete sich vor ihm aus. Unwillkürlich verließ er den Fußpfad und lief weiter feldein, die Arme ausgestreckt, als könnte er in dieser Breite mehrere Richtungen auf einmal bewältigen. Und dann warf er sich irgendwo hinter eine Hecke, und niemand legte Wert auf ihn. Er schälte sich eine Flöte, er schleuderte einen Stein nach einem kleinen Raubtier, er neigte sich vor und zwang einen Käfer umzukehren: dies alles wurde kein Schicksal, und die Himmel gingen wie über Natur. Schließlich kam der Nachmittag mit lauter Einfallen; man war ein Bucanier auf der Insel Tortuga, und es lag keine Verpflichtung darin, es zu sein; man belagerte Campeche, man eroberte Vera-Cruz; es war möglich, das ganze Heer zu sein oder ein Anführer zu Pferd oder ein Schiff auf dem Meer: je nachdem man sich fühlte. Fiel es einem aber ein, hinzuknien, so war man rasch Deodat von Gozon und hatte den Drachen erlegt und vernahm, ganz heiß, daß dieses Heldentum hoffärtig war, ohne Gehorsam. Denn man ersparte sich nichts, was zur Sache gehörte. Soviel Einbildungen sich aber auch einstellten, zwischendurch war immer noch Zelt, nichts als ein Vogel zu sein, ungewuS welcher. Nur daß der Heimweg dann kam.

Mein Gott, was war da alles abzulegen und zu vergessen; denn richtig vergessen, das war nötig; sonst verriet man sich, wenn sie drängten.   Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Fankfurt am Main 2000 (it 2691, zuerst 1910)

 

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