Sitten, lockere  Ich will weder die vielen Aufstände, Revolten, Unruhen und Ausschreitungen aufzählen, noch die blutigen Annalen der Reaktion zitieren, die Massenexekutionen, die Verhaftungen und Verfolgungen, ich will auch nicht die zahllosen Terrorakte schildern, die Fälle von Panik und Massenhysterie, am Hof, im Volk, in der Bourgeoisie, ich will nicht erzählen, warum die glühendsten Verehrer der edlen Maria Spiridonowa oder die begeisterten Anhänger des heldenhaften Leutnants Schmitt ihre revolutionären Ideale und die Idee einer sozialen Erneuerung aus den Augen verloren und in Banden die gemeinsten Verbrechen begingen, ich will nicht darstellen, wie eine vitale intellektuelle Jugend die wüste Armee des Verbrechens verstärkte und in ihr aufging. Diese Ereignisse sind allen noch im Gedächtnis, und sie gehören schon der Geschichte an. Wenn ich dennoch von einigen tragischen Episoden berichte und sie grob skizziere, so nur, um die Entwicklung Moravagines klar herauszustellen. Diese Epoche, die das Heilige Russische Reich wanken und den Zarenthron stürzen sah, hat sich den hundert-zwanzig Millionen Einwohnern dieses immensen Kaiserreichs unauslöschlich aufgeprägt. Wahnsinn und Selbstmord waren an der Tagesordnung. Alles war aus den Fugen, die Institutionen, die Familientradition, das Ehrgefühl. Ein Zerfall, den man für Mystizismus hielt, keimte in allen Gesellschaftsschichten. Kaum fünfzehnjährige Gymnasiasten und Gymnasiastinnen huldigten der freien Liebe. Die Prostituierten schlossen sich zu einer Gewerkschaft zusammen und stellten an die Spitze ihrer Forderungen das Recht auf menschliche Achtung. Ungebildete Soldaten, Analphabeten, fingen an zu philosophieren, und ihre Offiziere diskutierten die Dienstvorschriften. Auch auf dem Lande wurden die Sitten merklich lockerer, und der alte Stamm der Religion trieb unerwartete giftige Blüten. Popen, hysterische Mönche erhoben sich plötzlich aus dem Volk und stiegen auf bis an den Hof; ganze Dörfer hielten halbnackt Prozessionen ab, geißelten sich; an der Wolga begingen die Juden rituelle Verbrechen, schächteten zum Passah-Fest orthodoxe Neugeborene. Ein merkwürdiger asiatischer Aberglaube machte sich unter der buntzusammengewürfelten Bevölkerung breit und führte zu scheußlichen, ekelhaften Praktiken. Ein Mann trank Monatsfluß, um das Herz eines flatterhaften Stubenmädchens zu gewinnen. Die Kaiserin bestrich sich die Hände mit Hundekot und rieb damit die breite Stirn des wasserköpfigen Erbprinzen ein. Die Männer trieben Päderastie, die Frauen waren lesbisch, alle Paare liebten sich platonisch. Die Genußsucht kannte keine Grenzen. In den Städten brachen aus allen Fassaden die flammenden Eingangsschluchten der Bars, Tanzdielen und Nachtlokale. In den Separees, in den kleinen Salons der großen Restaurants, beim »Bären«, bei »Palkin«, in der »Insel« oder der »Moika«, saßen die ordenbehängten Minister mit kahlgeschorenen Revolutionären und langhaarigen Studenten zusammen und kotzten ihren Champagner über die Scherben und die geschändeten Frauen.

Schüsse knallten, dazwischen das dumpfe Krachen der Bomben.

Und die Prasserei ging weiter.

Was für ein Experimentier- und Beobachtungsfeld für den Wissenschaftler! Auf beiden Seiten der Barrikade unerhörte Fälle von Heldentum und Sadismus.

In finsteren Kerkerlöchern, in den Kasematten der Zitadellen, auf offener Straße, in Verschwörerkellern und elenden Arbeiterwohnungen, bei den Empfängen in Zarskoje-Selo und bei den Verhandlungen des Kriegsgerichts, überall stieß man auf Monstren, heruntergekommene, entgleiste, ausgestoßene, überspannte, zerrüttete menschliche Wesen: berufsmäßige Terroristen, Spitzel im Priestergewand, blutrünstige junge Aristokraten, unerfahrene, ungeschickte Henker, grausam verzopfte und vor Angst zitternde Polizeioffiziere, traumatische Großfürsten, Prinzen, stumm vor Gewissensangst, von schlaflosen Nächten, von den Fieberträumen ihrer Verantwortung ausgezehrte Gouverneure. Narren, Narren, Narren, Feiglinge, Verräter, Dummköpfe, Verbrecher, Duckmäuser, Betrüger, Denunzianten, Masochisten, Mörder. Unzurechnungsfähige Tobsüchtige. Was für ein Krankheitsbild, was für ein Experimentierfeld!   - (mora)

 

Sitten Lockerung

 

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