Sitte   Ein kleiner, aber drahtiger Mann in schlichtem blauem Gewand und mit runder Kappe trat ein. Auf den ersten Blick wirkte er wie ein Krämer, doch bei näherem Hinschauen erkannte man, daß er ein Gesicht hatte, mit dem er niemals als Händler arbeiten konnte. Durch tiefe Furchen war es gewissermaßen in lauter Abschnitte geteilt. Am linken Auge hatte er ein nervöses Lidzucken, und es klappte in einem fort auf und zu, wogegen das rechte kalt und unbeweglich starrte. Er erinnerte Richter Di stark an eine Echse. Als er sich zum Niederknien anschickte, sagte der Richter ungeduldig:

»Spart Euch die Formalitäten und kommt zur Sache!«

»Meine Dienststelle erhielt Order, nach einem Tanzmädchen namens Porphyr zu suchen, Euer Exzellenz«, begann das Männchen in steifer Sprache. »Da Freudenhäuser und Spielhallen bei der jetzigen Notzeit wenig Betrieb haben, nahm ich die Angelegenheit persönlich in die Hand und widmete ihr die ganze Nacht. Ich sprach mit dem Meister der Gilde der Bordelliers sowie anderen von deren führenden Mitgliedern, und unterdessen befragten meine Geheimleute die Lockspitzel, die wir in den zugelassenen Vierteln allerorts haben. Das Ergebnis läßt sich wie folgt zusammenfassen: Erstens kann es sich bei besagter Porphyr auf keinen Fall um eine Lernkurtisane handeln. Außerhalb des Viertels dürfen Lehrlinge nur arbeiten, wenn sie eine ausgelernte Kurtisane begleiten, um dieser beim Umkleiden, beim Bedienen der Gäste mit Wein oder durch Singen oder Spielen eines Musikinstrumentes zur Hand gehen. Ehe sie nicht ihre Prüfung abgelegt haben, ist es ihnen nicht erlaubt, vor Publikum zu tanzen, und schon gar nicht nackt oder anderweitig aufreizend, denn das steht allein einer Extraklasse von Kurtisanen zu, die dafür auch eine besondere Vergütung erhalten. Zweitens erscheint der Name Porphyr weder in einer offiziellen noch in einer inoffiziellen Liste. Drittens ist in den letzten zwei Wochen bei keinem der Bordelle, den exklusiven wie den primitiven, von Herrn Yi selig ein Mädchen bestellt worden, obgleich er zuvor ein sehr regelmäßiger Kunde war.«

Den Richter mit seinem nicht zuckenden Auge fixierend, fuhr das Männchen fort:

»Meine Schlußfolgerung, Euer Exzellenz, geht dahin, daß es sich bei dieser Porphyr und ihrem Kuppler um ein Schwindlerpärchen handelt. Der Gildemeister zeigte sich höchst erzürnt über diesen Betrug. Er hat die Sache bekanntgegeben und sogleich eine Belohnung ausgesetzt. Ich rechne damit, daß die beiden sehr bald gefunden werden.« Es ließ sich nur schwer erkennen, ob er mit dem linken Auge zwinkerte, oder ob das bloß sein krankhaftes Zucken war, als er mit der trockenen Bemerkung schloß: »Die Gilde hat es nicht so gern, wenn in ihrem Revier gewildert wird.«    - Robert van Gulik, Mord nach Muster. Zürich 1989

Polizei

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