ezieren   Die Pathologen kannten die Seziertechniken ihrer Kollegen ganz genau. Dr. Miele rauchte bei der Arbeit gern eine gute Zigarre und war so groß, daß er im Sitzen an alles herankam. Die Art, wie er seine Instrumente schwang, wie er die Zigarre zwischen die Zähne klemmte und »Gewolltoinwürkung« sagte, trug ihm den Spitznamen »Broadway-Schlächter« ein. Dr. Gut-tenberg war klein und energisch. Er hatte die Angewohnheit, blinzelnd und rechnend neben dem Leichnam zu sitzen, und galt als die Ausgeglichenheit in Person. Doch als die andern eines Abends schon nach Hause gegangen waren und ihn mit einer angefangenen Autopsie alleinließen, schmierte er unflätige Worte mit Blut an die Tafel.

Dr. Hake war der Intellektuelle vom Dienst in der Morgue: ein gutaussehender, hochmütiger Mittdreißiger, ein Pfeifenraucher mit Haaren dicht und dunkel wie Burgundersauce. Er hatte freiwillig das kleinste und schäbigste Büro genommen, weil er den Ausblick so romantisch fand: Draußen an der Mauer hing, von seinem Fenster aus stets sichtbar, das Schild MORGUE. Er investierte den größten Teil seines Gehalts und alles Gefühl in die Veröffentlichung seiner Bücher über das Leben und dessen Sinn, verfaßt in seiner geliebten Medizinerprosa. Neuerdings hatte er sich auch an einem Gedicht versucht, das großes Aufsehen erregte: über die inneren Organe. Als einziger in der Pathologie bekannte er sich zu der Überzeugung, daß im Innern eines Menschen nicht nur Eingeweide wohnten, sondern auch eine Seele, und im Innern jeder Seele verberge sich ein schmutziges Geheimnis. - Irene Dische, Fromme Lügen. Frankfurt am Main 1989

 Sezieren  (2)  Dr. Hake legte die Körperteile zurecht, während seine Gedanken bei Carl Bauers Geheimnis waren. Er maß die Knochen, um Größe und Geschlecht des Opfers festzustellen. Linkes Femur, 426,2mm. Da war der Kirche ein großer Coup gelungen, wenn sie Adolf Hitler in ihre Herde heimgeholt hatte. Es hatte dem Barmherzigen nicht gefallen, ihn ergreifen und durch Hinrichtung demütigen zu lassen; er hatte den Sünder den Sakramenten des organisierten Aberglaubens anheimgegeben. Linke Tibia, 345mm. Dr. Hake hatte davon gehört, daß auf dem Totenbett mitunter die ruchlosesten Verbrechen gebeichtet wurden, ohne daß der Missetäter seine Schuld der menschlichen Gesellschaft gegenüber auch nur mit einem Pfennig abgegolten hätte. Patella, 39,7 lang, 40,0 breit; im Gegenteil, er verschied durchaus glücklich im Kreise seiner Lieben, die nur von seiner Güte und — das war der gemeinsame Nenner, der Dr. Hake aufgefallen war — von seiner Frömmigkeit zu berichten wußten. Sternum, Länge mit Processus ensiformis 185 mm. Die Kirche hatte sie in Gnaden aufgenommen. Vermutlich hatten sie allesamt ihre Verbrechen einem Priester gebeichtet.

Segne mich, Vater, denn ich habe gesündigt. Ohne Processus ensiformis 141,0 mm. Ich habe getötet. Darüber wirst du mit dem Bischof reden müssen, mein Sohn. Aber es war in einem gerechten Krieg! Nun, wenn das so ist, wie oft denn, mein Kind? Einmal, zehnmal, ich habe gefoltert und geschändet. Im Namen des Vaters und des Sohnes, Humerus 272 mm. Sieht nach Frau aus. Ich spreche dich los von deiner Schuld. Scapula 147 breit, 160 lang. In Wahrheit hatte Dr. Hake von solchen Totenbettbeichten nie gehört, er vermutete nur, daß sie an der Tagesordnung waren. War es nicht lächerlich zu glauben, daß die Erhabene Waage sich zugunsten derer neigte, die derart abstoßende Dinge getan hatten und denen man nun, nach einem Ausdruck des Bedauerns nahelegte, sie sollten das Ganze vergessen? Radius 223, Clavicula i36mm. Eindeutig Frau. Und sicherlich von irgendeinem albernen, unnützen Männchen ihrer Gattung in die Kanalisation gespült. Die Weibchen waren dafür zu praktisch veranlagt, sie kannten die Schwachstellen der Kanalisation und wußten, wie schwer ein billiger Klempner aufzutreiben war.

Dr. Hake nahm den Plastiksack mit den Puzzleteilchen der Pelvis und leerte ihn auf den Tisch. Die Frömmigkeit von Lügen verdunkelt, (hier war das Schambein) und statt sie aufzudecken (Fossa acetabuli), vermengte sie sich mit ihnen (Symphysis) und wurde selbst zur Lüge (die Pelvis verriet alles). Die Rituale und Metaphern des Glaubens untergruben die wahre Frömmigkeit, statt sie zu stärken. Metapher als Krankheit. Das ist ein anderes Buch, rief sich Dr. Hake zur Ordnung. Eins nach dem andern. - Irene Dische, Fromme Lügen. Frankfurt am Main 1989

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