Sertão-Kosmogonie   Bei der Beschreibung des Reichssteins im Sertão sah Oberstleutnant Durval de Agular, daß diese Gegend ganz ›aus natürlich übereinandergeschichten Steingebirgen‹ besteht, ›die Festungen und unbezwingliche Zufluchtstätten‹ bilden. Euclydes da Cunha beschreibt, den Oberstleutnant plagiierend, ebenfalls den Sertão und spricht von ›Reihen kapriziös angeordneter Gebirgshänge‹, die ›tatsächlich großen Totenstädten‹ ähnlich sehen, Städten, an denen der Sertão-Bewohner vorbeireitet, ›ohne die Sporen aus den Weichen seines pfeilgeschwinden Pferdes zu ziehen‹, weil er sich vorstellt, sie seien ›von schweigenden, tragischen Seelen aus einer anderen Welt bewohnt‹. Und daran erkenne ich, daß Euclydes da Cunha unter keinen Umständen der ›Genius des brasilianischen Volkes‹ gewesen sein kann. Sehen Sie nur, wie leichtsinnig er vorgegangen ist! ›Sich vorstellt‹ -  was für ein blödsinniges Gerede! Es gibt sie wirklich! Diese Bevölkerung von Seelen aus einer anderen Welt existiert hier wirklich in unseren Steinen, nachts, bei Tage und auf dem Gipfel des Mittags. Die Jaguare, die Sperber, die Geieradler, die Hirsche, die Böcke, die Schlangen und die Sertão-Fledermäuse würden für den Beweis genügen, daß unser steinummauertes Königreich von Göttern und Dämonen, von Engeln und Gottheiten bevölkert ist. Wie mir Clemens erklärt hat, Herr Richter, ging aus dem Beischlaf der Sonnengottheiten miteinander die Erde hervor und das Wasser, das diese Gottheiten abließen. Von da an war es leichter: Spermatropfen der männlichen Götter oder Menstruationstropfen der weiblichen Gottheiten, die auf den Lehm der Erde fielen, ließen entweder Tiere oder Pflanzen entstehen. Wenn dann später ein Gott eine Hirschkuh bestieg oder eine Göttin sich von einem Pfau oder von einem Sperber decken ließ, wurde je nachdem ein Mann oder eine Frau geboren. Aus diesem Beischlaf der Tapuia-Gottheiten mit den Jaguaren, den Sperbern, den Böcken, den Ziegen, den Hirschen und anderen Tieren gingen die braunen Tapuias hervor, direkte Vorfahren der Sertão-Einwohner und indirekte aller übrigen Menschen-Und deshalb erscheint mir der Sertão in den Augenblicken meiner größten prophetischen Blindheit als das steinerne Königreich, von dem ich Ihnen gesprochen habe. Ein Reich, durch das ich jetzt umherirre wie der Raufbold Vilela, ebenfalls ein verirrter, von einem Prozeß bedrängter Vagabund, blind und außerstande, etwas anderes wahrzunehmen außer diesen Felsen, diesen dornigen Buschsteppen, diesen kahlen Anhöhen, dieser Sertão-Rasse und diesen Tieren, die jenen ähnlich sehen, die bisweilen in unseren Albträumen auftreten. Zu meinem Glück jedoch kennt die Blindheit, die meine Augen befiel, lichte Augenblicke. Blind wie ich bin, spaltet manchmal, wenn ich es am wenigsten erwarte, ohne Vorzeichen ein Blitz das Halbdunkel, in dem ich lebe, und dann sehe ich, was ich ebenfalls der ›geheiligten Krankheit‹ der Genies zuschreibe, von der ich in Ihrer Gegenwart überkommen wurde. In solchen Augenblicken sehe ich wirklich, sehe ich gründlich! Was ich dann wahrnehme, was ich dann ins Auge fasse in solchen Augenblicken des ›Funkensteinblitzes‹ und des ›Schmetterblitzes‹, erkenne ich in unterbrochenen Zonen blendender Helligkeit, sehe ich, wie bis heute nichts von den gemeinen Sterblichen gesehen worden ist.«    - (stein)
 
 

Sertao Kosmogonie

 

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