Sertão-Blinde   »Ew. Ehren wissen sicherlich, daß die Sertão-Blinden in zwei große Gruppen zerfallen, in die Unverschämten und in die Theologen. Die Theologen sind demütig, unterwürfig, ergeben in ihr Schicksal und fromm. Sie erbitten kniend Almosen auf den Gassen und an den Kirchenportalen; sie verharren stundenlang in dieser märtyrerhaften Stellung in der Sonne und rühren mit einem Gesicht, auf dem tausendjähriges Leid geschrieben steht, selbst das Herz der Geschäftsleute. Sie singen Sextinen wir diese:

Menschen, die, von edler Denkart,
Richtig und verständig leben,
Tauschen sich den Himmel ein
Für die Erde und erheben
Sich zu ihm, wenn sie Almosen
Allen Bettelleuten geben.

Die Unverschämten dagegen gehen auf uns los, versetzen uns mit der ausgestreckten Hand eine Art Messerstich in die Leber und rufen mit rauher Stimme: >Geben Sie mir ein Almosen!< Wenn man ihnen nichts gibt, sagen sie einem die größten Frechheiten, verdrehen ihre Augen mit Daumen und Zeigefinger, stellen die roten Eiterwunden zur Schau, zu denen ihre Augen verkommen sind, rufen uns einen schlimmen Fluch nach und wünschen uns, daß wir so blind werden sollen wie sie selber. Sie singen so:

Satanas, der Höllenfürst,
Sei dein Abgott streng und barsch.
Geier mögen dich verfolgen
Und dein Aas in Stücke reißen!
Blase dir der Tod den Marsch!
Auf dein Schicksal soll er scheißen,
Du verfluchter Maultier-Arsch!

Nun gut, Herr Richter, von Pedro Gottergeben kann man sagen, daß er gleichzeitig beiden Gattungen angehörte, denn er war ein unverschämter Blinder mit theologischen Anwandlungen. Er war als Erwachsener erblindet, im Alter von fünfundzwanzig Jahren; vorher war er Jäger, Cangaceiro, Volkssänger, Trunkenbold und Unruhestifter gewesen, von allem ein bißchen. An jenem Samstag war er ebenfalls nach Taperoá gekommen, wo er sich seit langem nicht mehr hatte blicken lassen. Bis zu jenem Augenblick hatte man ihn nicht bemerkt, weil er aus Vila do Desterro auf der Straße von Vila do Teixeira in die Stadt gekommen war, das heißt aus der entgegengesetzten Richtung der Straße von Campina und Estaca Zero.

Da er gerade ankam, als die Kavalkaden beginnen sollten, war die Aufmerksamkeit des Volkes durch die Ankunft Sinesios und der Jaguare abgelenkt gewesen. Als Pedro der Blinde jetzt jedoch die Worte des Propheten Nazärio vernahm, war er der erste, der das Wort ergriff und die allgemeine Bestürzung nach der Vision vom Singenden Jaguar ausnützte:

>Ich weiß, Nazário<, rief er, indem er den Propheten an seiner Stimme wiedererkannte, >ich weiß, wo die Grotte des Singenden Jaguars liegt. Als ich noch sehen konnte und Jäger war, ging ich häufig auf Jaguar jagd. Wißt ihr, daß ein Messer, wenn es ins Fleisch des Jaguars einschneidet, in Blut und Fleischfasern des Raubtiers steckenbleibt? Deshalb kann man einem Jaguar nur einen Messerstich versetzen, denn das Fleisch des Raubtiers hat so viel Quecksilber in sich und haftet derart am Messer, daß keine Menschenkraft es wieder herauszuziehen vermag. Nun denn! Ich erinnere mich, daß ich mich eines Tages auf der Jaguar jagd in einem Felsengebirge dort drüben in Richtung Espinhara verirrte. Dort ließ ich mich um die Mittagszeit in einen Kampf mit einem Jaguar ein, und das war einer der schwersten Kämpfe, in die ich je geraten bin. Ich erinnere mich, daß ich siebzehn Messerstiche im Bauch des Raubtiers gelandet habe.<«

»Alle Achtung!« unterbrach mich der Richter. »Hatte er nicht gerade eben gesagt, daß man einem Jaguar nur einen Messerstich versetzen kann, weil das Messer im Fleisch steckenbleibt?«

»Das ist wahr, Herr Richter, aber hier im Hinterland weiß man auch, daß alle Jaguargeschichten irgendwo in der Mitte einen schwachen Punkt haben.«  - (stein)

 

Sertao Blinder

 

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