Selbstmord  Ein Tenor schloß sich im März 1982, nachdem er etliche Male falsch gesungen hatte, in seine Garderobe ein und erschoß sich mit einem Revolver. Als man die Tür aufgebrochen hatte, war er lebendig, denn der Revolver war kein echter, sondern ein Theaterrevolver. Der Tenor erklärte, das habe er nicht gewußt.

Ein Pazifist zündete sich auf der Straße an; er bereute es aber sofort und sprang in einen Brunnen. Später sagte er, er habe ein Menschenleben gerettet.

Ein älterer alleinstehender Psychologe hatte im Oktober beschlossen, sich mit einem Schlafmittel das Leben zu nehmen; aber während er auf die Wirkung wartete, betrachtete er sich plötzlich als Opfer einer psychischen Störung und ersuchte um eine sofortige Magenspülung.

Ein Rechtsanwalt, der Alkoholiker und völlig verarmt war, stürzte sich am zehnten September von einer Brücke. Aber mit ihm stürzte ein Rentner hinunter, der versucht hatte, ihn zurückzuhalten. Der Rentner ertrank, während der Rechtsanwalt noch im angetrunkenen Zustand und bewußtlos ans Ufer gezogen wurde. - (cav)

Selbstmord (2)  Zuviel Laudanum verhalf dem Architekten Godefoin aus Boulogne lediglich zu Magenkrämpfen. Also wollte er sich ertränken. Aber man fischte ihn heraus. - (fen)

Selbstmord (3) Im Wald von Noisiel lag Litzenberger, 70 Jahre alt, in zwei Teilen unter der Ulme, an der er sich erhängt hatte, den Schädel von Krähen zerfleischt. - (fen)

Selbstmord (4) Sein Krebs wurde unertäglich. M. Henrion aus Châtillon-Laborde (Seine-et-Marne) schnitt sich mit einem Küchen- und einem Rasiermesser die Kehle durch. - (fen)

Selbstmord (5) Krank und ohne Hoffnung auf Heilung öffnete sich M. Ch. Bulteaux die Pulsadern im Wald von Clamart und erhängte sich an einer Steineiche.- (fen)

Selbstmord (6)

Selbstmord

Es versuchte ein Herr aus dem Norden
gelegentlich, sich zu ermorden.
»Die alte Geschichte«,
rief seine Nichte.
»Es ist wieder nichts draus geworden!«

- (lea)

Selbstmord (7) Rügisches Landrecht des Matth. Norman. 1525-31. Kap. 127 §§ 5-8. Hängt sich einer innerhalb eines Hauses selbst auf, so haut man ihn los und gräbt (zur Abschreckung Anderer) ihn unter der Schwelle oder durch die Wand durch und bringt ihn so hinaus, läßt das Gericht über ihn sitzen und ihn besichtigen, bindet den Strick an eine Kufe mit einem Querholz und läßt ihn mit einem Pferde zum nächsten Kreuzweg hinschleppen, wo sich zwei oder drei Feldmarken scheiden, und gräbt ihn in den Grund und Boden der Herrschaft ein, unter der er sich umgebracht hat; man legt ihm das Haupt dahin, wo die christlichen Toten ihre Füße liegen haben, läßt ihm aber den Strick, mit dem er sich erhängt hat, um den Hals, und ist der Strick nicht lang genug, so verlängert man ihn in der Erde, sodaß ein Ende 3 Schuh lang über der Erde liegen bleiben kann zum Zeugnis des begangenen Selbstmordes und zur Abschreckung. Hatte er sich erstochen, so handelt man ebenso wie eben gesagt, und setzt einen Baum oder ein Holz neben dem Haupte und schlägt das Messer in das Holz, sodaß es niemand herausziehen kann, ohne es zu zerbrechen.

Zieht einer mutwillig ein solches Messer aus dem Holz, oder haute er den Strick ab, so muß der Täter, wenn das herauskommt, seinen Hals lösen1 im Gerichte, in welchem dergleichen geschieht oder geschehen ist.

Ertränkt sich einer mutwillig, so läßt man über ihn das Gericht halten und vergräbt ihn 5 Schuh weit vom Wasser in den Sand. Ist es eine Pfütze, so begräbt man ihn außerhalb des Hofes auf einen Berg und setzt ihm drei Steine, den einen auf das Haupt, den andern auf den Leib, und den dritten auf die Füße. Ausg. C. Frommhold, 1896 (Qu. z. pomm. Gesch. III). - Aus: - Wilhelm Ebel, Curiosa iuris germanici. Göttingen 1968

1 = er kann die an sich verwirkte Todesstrafe durch Zahlung seines Manngeldes (Wergeldes) ablösen.

Selbstmord (8)  

 Selbstmord (9)
 

Leckt mich am Arsch

Am 5. Februar 1966
setzte James Albert Pike,
22,
im Hotel Hadson
ein Gewehr (Savage .30-.30)
an seine Schläfe,
legte den Bleistift weg,
nachdem er "Lebwohl"
unter seine letzten
Worte geschrieben hatte,
und drückte den Abzug.

Die Kugel wurde in der Zimmerdecke gefunden.
Der ehrwürdige Reverend James A. Pike, sein Vater,
sagte:
"Ich kann das gar nicht verstehen."
Ein Detektiv sagte:
"Das war ein durchgedrehter Junge."
Nahe Bekannte in Kalifornien sagten:
"Jimmi war ein guter Junge."
Ehe er den Abzug drückte
schrie Jimmi:
"Mann, leckt mich am Arsch."

 

- George Sparling, aus: Acid. Neue amerikanische Szene. Hg. Rolf Dieter Brinkmann, Ralf-Rainer Rygulla. Frankfurt am Main 1969

Selbstmord (10)  Ich könnte Ihnen ums Leben nicht sagen, ob ich wirklich die Absicht hatte, die Sache zu Ende zu bringen, oder ob mein Unterbewußtsein nur eine billige dramatische Vorstellung gab. Der erste Schuß ging jedenfalls ganz ohne meine Absicht los. Ich hatte noch nie mit der Pistole geschossen, und der erforderliche Druck auf den Abzug war so gering, daß ich ihn kaum berührt hatte, um meine Hand in die richtige Position zu bringen, als der Schuß auch schon losging und die Kugel rings an den Kachelwänden der Duschkabine abprallte und oben in die Decke fuhr. Sie hätte mir ganz ebenso leicht auch in den Bauch schlagen können nach dem Abprall. Die Ladung kam mir reichlich schwach vor. Das erklärte sich, als der zweite Schuß (der die Sache nun besorgen sollte) überhaupt nicht losging. Die Patronen waren etwa fünf Jahre alt, und in dem Klima hier hatte sich die Ladung, vermute ich, wohl zersetzt. An diesem Punkt ging bei mir das Licht aus. Der Polizeibeamte, der hereinkam, erzählte mir später, ich hätte auf dem Boden der Dusche gesessen und versucht, mir die Waffe in den Mund zu schieben, und als er mich dann aufgefordert hätte, sie ihm zu geben, hätte ich bloß gelacht und sie ihm ausgehändigt.

Ich habe nicht die leiseste Erinnerung daran. Und ich weiß auch nicht, ob es ein emotionaler Defekt ist, daß ich absolut kein Schuldgefühl verspüre und auch gar nicht in Verlegenheit gerate, wenn ich Leuten in La Jolla begegne, die alle wissen, was passiert ist. Es kam hier über den Rundfunk, in den Telefon-Nachrichten und im ganzen Land in den Zeitungen, und ich bekam stapelweise Briefe aus allen Himmelsrichtungen.

In England, glaube ich, und in noch einigen anderen Ländern ist versuchter Selbstmord, oder was so aussieht, ein Verbrechen. Für Kalifornien gilt das nicht, aber man muß durch die Beobachtungsstation des Kreiskrankenhauses. Ich redete mich schon am nächsten Mittag heraus, aber es war nur unter der Bedingung möglich, daß ich in ein Privatsanatorium ging . . . Mich aus dem herauszureden, war wesentlich schwieriger. Ich hielt es sechs Tage aus und verkündete dann, daß ich mich selbst zu entlassen gedächte. Großes Erdbeben. Das ginge nicht, auf gar keinen Fall. Na schön, sagte ich, dann zeigen Sie mir einmal das Gesetz, das mich hier festhält. Es gab keins, und der leitende Mann da wußte das.

So kam ich also wieder nach Hause, und seither hat mich von der ganzen Geschichte eigentlich nichts mehr beschäftigt, mit Ausnahme des Umstands, daß sie mich da so mit Drogen vollgepumpt hatten, um mich fügsam zu machen, daß ich immer noch einen leichten Kater davon habe. Ist es nicht erstaunlich, daß da Leute herumsitzen, deprimiert, gelangweilt und elend in diesen Häusern, voller Sorge um ihre Stellungen und Familien, voller Sehnsucht, wieder nach Hause zu kommen, jeden zweiten Tag einer Elektroschockbehandlung unterworfen (bei mir haben sie nicht gewagt, mit sowas zu kommen) und dazwischen Insulin-Schocks, voller Angst vor den Kosten für das alles und mit dem Gefühl, Gefangene zu sein, und daß sie doch nicht den Mumm haben, einfach aufzustehen und wegzugehen? Ich nehme an, es gehört das mit zu dem, was sie hergebracht hat. Wenn sie mehr Mumm hätten, wären sie überhaupt gar nicht da. Aber das ist wohl noch keine Antwort. Wenn ich selber mehr Mumm gehabt hätte, dann hätte mich Verzweiflung und Kummer nicht derart fertiggemacht, daß ich tat, was ich tat. Aber als ich feststellte, daß ich's mit . .. bloßem psychiatrischen Blabia und mit einer nicht vorhandenen Autorität zu tun hatte, die mich glauben machen wollte, sie besäße Macht über mich, da sah ich gar kein besonders großes Wagnis mehr darin, ihnen einfach zu sagen, was ich tun würde, und es dann auch zu tun. Und am Ende schien ihnen das sonderbarerweise sogar fast zu gefallen. Die Oberschwester küßte mich und sagte, ich wäre der höflichste, der rücksichtsvollste und entgegenkommendste Patient, den sie dort je gehabt hätten, und ich wäre ja gar nicht totzukriegen, und Gott solle jedem Arzt helfen, der versuchte, mich zu etwas zu veranlassen, von dem ich nicht auch überzeugt wäre, daß ich's tun sollte.  - (cha)

Selbstmord (11)  Bei jedem Zweikampf, sei auch die Erbitterung der Gegner noch so groß, gibt es eine Zeit feierlicher Unbeweglichkeit; jeder der Kämpfer belauert den Feind schweigend und sinnt seinem Kampfplan nach, berechnet den Angriff und bereitet sich auf die Abwehr vor; dann suchen sich die Klingen, reizen sich und lassen in der Berührung nicht mehr voneinander. Dies währt einige Sekunden, die wie Minuten - wie Stunden - der besorgten Umgebung vorkommen. In diesem Falle waren die Umstände des Duells für die Zuschauer in keiner Weise ungewöhnlich, für die Gegner jedoch so sonderbar, daß sie sich länger als sonst üblich in Deckung hielten. Beide hatten doch ihren eigenen Körper vor sich und mußten mit der Waffe das ihnen wenige Tage zuvor noch gehörige Fleisch verletzen. Der Zweikampf wurde so zu einer Art nicht vorgesehenen Selbstmordes, und trotz ihrer Tapferkeit faßte unwillkürliches Grauen Octave und den Grafen, als sie sich mit dem Degen in der Hand ihrem gespenstischen Selbst gegenüber fanden, bereit, über sich selbst herzufallen.  - Théophile Gautier, Avatar. Frankfurt am Main 1985 (st 1161, zuerst 1856)

Selbstmord (12)  Als sie nun eine Weile geschwatzt hatte, sagte sie, es sei Zeit für ihn, ins Bett zu gehen.

Sein Zimmer lag neben der Küche, und vom Bett aus konnte er durch die offene Tür alles sehen, was in der Küche vor sich ging. Da stand ein Kessel mit kochendem Wasser auf dem Feuer. Er streckte sich im Bett aus, aber obwohl er müde war, könnte er keinen Schlaf finden.  Es dauerte nicht lange, da sah er, wie die Frau ihren Kopf in den Kessel mit dem kochenden Wasser steckte. Sie tauchte ein, sank tiefer und tiefer, bis endlich nur noch ihre beiden Fußsohlen am Rand des Kessels zu sehen waren. Schließlich verschwanden auch die Füße, und nicht ein Fetzchen Haut oder Knochen von der Frau waren zu sehen. Er konnte all das deutlich durch die Tür beobachten, während er im Bett lag, und es muß nicht gesagt werden, daß bei alledem an Schlaf nicht zu denken war.

Zuerst war er nur verwundert, dann erschreckt über das, was er da sah, und gerade, als er sich überlegte, daß die Frau nun doch unmöglich noch in dem kochenden Wasser am Leben sein könne, tauchte sie langsam auis dem Kessel wieder auf, als sei überhaupt nichts geschehen.

Der Junge war zu Tode erschrocken. Er dachte: Als nächstes wird sie dich in den Topf stecken. Aber nichts dergleichen geschah.

Statt dessen holte die Frau ein Seil, knüpfte am einen Ende eine Schlinge und warf das andere Ende über einen Balken an der Decke. Dann stieg sie auf einen Stuhl, legte sich die Schlinge um den Hals und erhängte sich mit eigener Hand. Da hing sie nun; ganz steif war ihr Körper, der dort an dem Seil hin und her baumelte.  Als der Junge meinte, sie müsse tot sein, die Zunge müsse ihr zum Munde heraushängen, streifte sie die Schlinge von ihrem Hals ab und war so lebendig wie eh und je. Nun nahm sie ein Rasiermesser und schnitt sich damit den Hals durch. Das Blut rann aus der Wunde, als habe man einen Ochsen geschlachtet. Sie stürzte zu Boden, ächzte und stöhnte und lag schließlich wie leblos da.

Diesmal muß sie tot sein, sagte sich der Junge im Bett. Aber nachdem sie eine Weile in einer riesigen Blutlache dort auf dem Boden gelegen hatte, schnalzte sie mit den Fingern. Das Blut floß in die Wunde zurück. Sie stand auf und ging gesund und munter in der Küche umher. - (irm)

Selbstmord  (13)  »Nun, geben Sie mir Ihren Revolver. Haben Sie keine Angst. Ich werde schießen. Sie gehen ein wenig später hinaus und sagen, der Mann mit den breiten Schultern habe sich das Leben genommen, was einem Geständnis gleichkomme, und die Untersuchung sei damit abgeschlossen.«

»Sie wollen ...«

»Vorsicht! Ich schieße. Sorgen Sie vor allem dafür, daß man mich dann hier in Ruhe läßt. Kann man notfalls durch dieses Fenster hinaussteigen?«

»Was wollen Sie tun?«

»Eine Idee. Verstanden?«

Und Maigret schoß in die Luft, nachdem er sich mit dem Rücken zur Tür in einen Sessel gesetzt hatte. Er dachte nicht einmal daran, die Pfeife aus dem Munde zu nehmen. Aber das hatte keine Bedeutung. Als Leute aus den Nachbarbüros herbeieilten, wimmelte Delvigne sie mit den ohne Überzeugung gemurmelten Worten ab: »Es ist nichts. Der Mörder hat sich das Leben genommen. Er hat ein Geständnis abgelegt.«

Und er ging hinaus, schloß die Tür ab, während Maigret sich vergnügt übers Haar strich. - Georges Simenon, Maigret und der Spion. München 1977 (Heyne Simenon-Kriminalromane 63, zuerst 1931)

Selbstmord  (14)   Ich versuchte, ihm zu entfliehen, doch er blieb immer an meinen Fersen, langweilte mich mit seinen Klagen und versuchte, auch mit Gewalt, mich an der Abreise aus der Stadt zu hindern. Mein Haß und meine Verzweiflung wuchsen von Stunde zu Stunde. Endlich, am fünften Tag, als ich sah, daß ich mich seiner eifersüchtigen Aufsicht nicht zu entziehen vermochte, wurde mir klar, daß mir nur ein einziges Mittel blieb. Und so trat ich entschlossen aus dem Haus, von seinem kläglichen Schatten verfolgt. Wir gingen, wie an allen anderen Tagen, in den unfruchtbaren Garten, in dem ich so viele Stunden in seiner Gestalt und mit seiner Seele verbracht hatte. Wir gingen auch an diesem Tag zu dem mit toten Blättern gefüllten toten Wasserbecken. Auch an diesem Tag setzten wir uns auf die künstlichen Felsen und entfernten mit der Hand die Blätter, um unsere Spiegelbilder zu betrachten. Als unsere beiden Antlitze in jenem dunklen Wasserspiegel nahe beieinander erschienen, da wandte ich mich plötzlich zu ihm hin, packte mein vergangenes Ich bei den Schultern und warf es mit dem Gesicht in das Wasser, gerade dorthin, wo sein Spiegelbild erschienen war. Ich tauchte seinen Kopf unter das Wasser und hielt ihn mit der ganzen Kraft meines verzweifelten Hasses dort. Er versuchte, sich zu wehren, er schlug heftig mit seinen Beinen aus, doch sein Kopf blieb unter der zitternden Oberfläche des Wassers im Becken. Nach wenigen Minuten spürte ich, wie sein Körper ermattete und schlaff wurde. Ich ließ ihn los, und er fiel hinab, auf den Grund des Beckens. Mein verhaßtes vergangenes Ich, mein lächerliches und erstauntes Ich der vergangenen Jahre war für immer gestorben.

Ruhig verließ ich den Garten und die Stadt. Kein Mensch brachte mich wegen dieses Ereignisses je aus der Ruhe. Und nun lebe ich immer noch in dieser Welt, in den großen Küstenstädten, und es scheint, als fehle mir irgend etwas, an das ich mich nicht mehr genau erinnern kann.

Wenn mich die Freude mit ihrer dümmlichen Lacherei packt, denke ich, daß ich der einzige Mensch bin, der sich selbst umgebracht hat und doch immer noch lebt. Aber dieser Gedanke reicht mir nicht, um ernst zu bleiben. - Giovanni Papini, Der Spiegel auf der Flucht. (Die Bibliothek von Babel Bd. 19, Hg. Jorge Luis Borges) Stuttgart 1984

Selbstmord  (15)  Varechas Tür schwang an geölten Angeln auf, ließ Wärter Percival Galt durch. Er bückte sich mit einer Blechtasse in der Hand und spritzte Wasser auf das Gesicht von Isadore Varecha, der ausgestreckt auf dem Korridorboden lag. Westland stierte entsetzt auf Varechas Gesicht. Es war das Gesicht von etwas aus der Erde Ausgegrabenem, monströs und verkommen. Die Haut war blau-schwarz; die Augen starr geöffnet und blicklos; Blut und Speichel, zur Farbe von Dieselöl vermischt, troffen aus einem lippenlosen Mund; das schwarze Haar glänzte feucht.

Westland fragte: »Ist er tot?«

Der Größere von den beiden Uniformierten hatte ein freundliches Gesicht. »Der wird schon wieder«, antwortete er. »Er hat versucht, sich mit seiner Hose zu erhängen.«  - Jonathan Latimer, Wettlauf mit der Zeit. Zürich 1990 (zuerst 1935)

Selbstmord  (16)  

Wilde Fratzen schneidet der Mond in den Sumpf.
Es kreisen alle Welten dumpf;
Hätt ich erst diese überstanden!

Mein Herz, ein Skarabäenstein;
Blüht bunter Mai aus meinem Gebein
Und Meere rauschen durch Guirlanden.

Ich wollt, ich wär eine Katz geworden;
Der Kater schleicht sie lustzumorden
Im vollmondblutenden Abendschein.

Wie die Nacht voll grausamer Sehnsucht keimt -
Sie hat in mir oft zart geträumt
Und ist entstellt zur Fratze.

Der Tod selbst fürchtet sich zu zwein
Und kriecht in seinen Erdenschrein,
- Aber ich pack ihn mit meiner Tatze.

- Else Lasker-Schüler, Sämtliche Gedichte. München 1977

Selbstmord  (17)   Ein Schneider in Anagni schloß sich, der Schneiderei überdrüssig, am 3. Januar 1980 um fünf Uhr nachmittag in dem Raum hinter seiner Werkstatt ein und erhängte sich mit seinem Metermaß.

Ein Malermeister trank Mitte Februar eine Büchse Lackverdünner und starb einen Tag später im Krankenhaus. Er hatte sich eingeredet, daß seine Frau, während er anderswo Wohnungen anstrich, zu Hause regelmäßig andere Männer empfing.

Ein Verkehrspolizist stürzte sich im März unversehens von seinem Podest unter einen Krankenwagen, der mit heulender Sirene vorbeifuhr, und starb auf der Stelle. Er klagte schon seit Jahren über seine Arbeit. Er klagte vor allem über den Lärm, den die Autos machen, und über die Abgase.

Ein Professor für Römisches Recht provozierte einen nervenschwachen Studenten so sehr, daß ihn dieser mit einem Holzhammer ins Gesicht und an eine Schläfe schlug; den Hammer hatte der Professor vorher in Reichweite des Studenten auf das Katheder gelegt. Der Professor wollte seit einiger Zeit sterben; er sagte, das Römische Recht sei zu nichts mehr nütze, nur noch um Professoren und Studenten von Generation zu Generation zu quälen.

Ein Automechaniker schloß sich am 5. April in ein Auto ein und starb den Hungertod. Er war nicht verheiratet, weil ihm einmal eine Hand in einem Motor geblieben war; dies, sagte er, sei ein Nachteil, den die Frauen sofort bemerkten.

Eine Verkäuferin in einem Pelzgeschäft schloß sich an einem Samstagabend in ein Kabinett voll Mottenpulver ein. Da das Geschäft auch montags geschlossen war, starb sie an den Ausdünstungen des Mottenpulvers. Auf einem Zettel, der neben ihr lag, standen Beschimpfungen gegen die Eigentümerin des Pelzgeschäfts.

Ein Fernsehregisseur wurde während der Dreharbeiten an einem Film, der mit sehr wenig Geld und sehr wenig Schauspielern gedreht werden sollte, auf einem gußeisernen Stuhl sitzend vorgefunden, der in allen Szenen als elektrischer Stuhl mit Hochspannung vorkam. Offenbar sollte während der Dreharbeiten an allem gespart werden, selbst an der Beleuchtung.

Ein Vorstadtpfarrer, der an Arteriosklerose litt, zündete eines Nachts viele Kerzen an und aß viele Weihrauchkörner, die eine gefäßverengende Wirkung haben; vielleicht, weil er dachte, Weihrauch sei gefäßerweiternd. Daher bekam er gegen fünf Uhr früh eine Blutleere und starb. Der Umstand, daß er ein pharmakologisches Lexikon besaß, läßt jedoch vermuten, daß ihm die Wirkung des Weihrauchs auf die Herzkranzgefäße bekannt war.

Ein Politiker aus der Provinz fiel bei einer Wahlversammlung seiner Partei im Juli vom Podium und war tot. Das Podium war viel höher, als ein Podium normalerweise ist, und sehr eng. Es wurde eine Untersuchung eingeleitet, um festzustellen, ob er hinuntergestoßen worden war oder ob er sich selbst hinuntergestürzt hatte, um sich umzubringen.

Ein Fahrradmechaniker erhängte sich während der Hundstage im August mit einem Fahrradschlauch. Schuld daran war offenbar die Hitze.

Ein asthmatischer Gewerkschaftler kehrte eines Nachts in das Büro der Gewerkschaft zurück, wo er erstickte. Er war schon seit einigen Jahren in Pension und wurde am Morgen über dem Konferenztisch liegend aufgefunden. Das Asthma hatte er sich während der Konferenzen zugezogen, durch den unablässigen Pfeifen- und Zigarettenrauch, gegen den er allergisch war.

Ein Bienenzüchter wußte, daß der Stich einer Biene einen anaphylaktischen Schock hervorrufen kann; und er sagte immer zu seiner Frau: »Ich bring mich um«, weil ihn nichts freute, weder zu Haus noch im Beruf. Als er am 8. September an einem Bienenstich starb, sagte seine Frau, als sie verhört wurde, das sei Selbstmord gewesen. Aber der Untersuchungsrichter stellte das Verfahren wegen Mangels an Beweisen ein.

Ein Dichter, der mit einem elektronischen Rechner Gedichte ohne Sinn machte, tötete sich durch Einatmen von Gas, um seinen Gedichten einen globalen dramatischen Sinn zu geben. Aber im Protokoll der Polizei ist nur vermerkt, er habe den Gashahn vielleicht aus Fahrlässigkeit nicht zugedreht.

Ein Klempner mit einem schweren Nervenzusammenbruch stürzte sich in einen Kanal, er hatte sich Rohre mit einem Gesamtgewicht von zweiundzwanzig Kilo an den Hals gebunden.

Ein Dompteur im Alter von dreiundsechzig Jahren, des Zirkuslebens überdrüssig, betrat eines Nachmittags als Affe verkleidet den Tigerkäfig. Die Tiger waren zahm, aber da sie ihn nicht erkannten, zerfleischten sie ihn. Der Fall wurde als Selbstmord registriert.

Ein Totengräber, noch jung an Jahren, aber nicht gesund, ließ sich im Dezember anstelle eines Toten begraben, indem er sich in einen Sarg legte, bevor dieser geschlossen wurde. Der Tote dagegen wurde eine Woche später bei ihm zu Hause unter dem Bett gefunden. - (cav)

Selbstmord  (18)  Wir setzten unsere Hüte auf und gingen, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, aus dem Haus. Der Unbekannte trug immer noch sein Köfferchen aus gelbem Leder in der Hand. Ich folgte ihm wie in Trance bis zum Fluß, der fast über die Ufer trat und tosend zwischen den schwarzen Steinmauern floß. Als er sich umgeblickt und gesehen hatte, daß niemand da war,  der ihn hätte retten können, wandte er sich mit den folgenden Worten an mich: «Verzeiht, wenn meine Lektüre Euch belästigt hat. Ich glaube, daß ich nie mehr ein lebendiges Wesen langweilen werde. Vergeßt mich geschwind.» Dies waren seine letzten Worte: Er kletterte flink über die Brüstung und warf sich kurzerhand samt Köfferchen in den Fluß. Ich lehnte mich über die Brüstung, um ihn zu sehen, doch das Wasser hatte ihn bereits aufgenommen und verschluckt. Einem kleinen schüchternen blonden Mädchen war der rasche Selbstmord wohl aufgefallen, doch es schien, als sei es nicht weiter verwundert, und so ging es Nüßchen knabbernd weiter. Ich kehrte nach einigen vergeblichen Versuchen nach Hause zurück. Sobald ich wieder in meinem Zimmer war, legte ich mich aufs Bett und schlief ohne Anstrengungen ein, erschlagen und ermattet von dem Unerklärlichen. Heute morgen wurde ich erst sehr spät wach und hatte ein sonderbares Gefühl: Mir war, als sei ich bereits tot und als wartete ich nur noch darauf, bestattet zu werden. Ich habe sofort Vorkehrungen für mein Begräbnis getroffen und bin selbst zum Bestattungsunternehmen gegangen, damit auch nichts vergessen wurde. Nun warte ich noch darauf, daß sie mir den Sarg bringen. Ich spüre, daß ich bereits einer anderen Welt angehöre. Alle mich umgebenden Dinge gehören auf eine unbeschreibliche Weise der Vergangenheit an, sind beendet und uninteressant geworden. Ein Freund hat mir Blumen gebracht, und ich habe ihm gesagt, daß er hätte warten können, um sie auf mein Grab zu legen. Mir schien, als habe er gelächelt. Aber die Menschen lächeln ja immer, wenn sie etwas nicht verstehen.  - Giovanni Papini, Eine absurde Geschichte. In. G.P., Der Spiegel auf der Flucht (Spiegelfluchten). Stuttgart 1983. Die Bibliothek von Babel Bd. 19, Hg. Jorge Luis Borges

Selbstmord  (19)   Auf dem Geländer einer Uferstraße stehend und bereits vorgeneigt, so daß er einen spitzen Winkel mit der Grundlinie bildet, von der er sich wie eine Statue loslöst, die ihr Gleichgewicht verliert, stürzt sich ein Mann steil in den Fluß hinunter. Er muß fest entschlossen sein; die Arme ruhig über der Brust gekreuzt, hat er einen reichlich schweren Pflasterstein mit einem Strick um den Hals gebunden. Er hat es sich wohl zugeschworen, nicht mehr davonzukommen. Das ist nicht der Selbstmord eines Dichters, der herausgefischt werden möchte, um von sich reden zu machen. Man muß sich bloß den schäbigen und faltigen Überrock ansehen, unter dem alle Knochen hervorstehen! Und die armselige, wie eine Schlange zusammengedrehte Krawatte und den knochigen und spitzen Adamsapfel! Wahrlich, man hat nicht den Mut, dem armen Teufel böse zu sein, weil er vor dem Anblick dieser Zivilisation ins Wasser flüchtet. Im Hintergrund, am jenseitigen Flußufer, gibt sich ein beschaulicher Bürgersmann mit rundlichem Bäuchlein dem unschuldigen Vergnügen des Fischens hin.  - (cb)

Selbstmord  (20)   Van versiegelte den Brief, fand seine Thunderbolt-Pistole an der Stelle, die er vorausgesehen hatte, füllte eine Patrone ins Magazin und ließ sie in den Lauf wandern. Dann, vor einem Schrankspiegel stehend, hielt er die Automatik gegen seinen Kopf, an den Pterions-Punkt, und drückte auf den bequem gebogenen Abzug. Nichts geschah - oder vielleicht geschah alles, und sein Schicksal gabelte sich einfach in jenem Augenblick, wie es wahrscheinlich nachts manchmal vorkommt, besonders in einem fremden Bett, im Zustand großen Glücks oder großer Verzweiflung, wenn wir im Schlaf sterben, aber unser normales Dasein, ohne wahrnehmbaren Bruch in der gefälschten Serie, am folgenden sauber vorbereiteten Morgen fortsetzen, mit einer Schein-Vergangenheit, die verborgen, aber fest hinten angeheftet ist. Jedenfalls war, was er m der rechten Hand hielt, keine Pistole mehr, sondern ein Taschenkamm, mit dem er durch sein Schläfenhaar fuhr.  - (ada)

Selbstmord  (21)  Eigentlich sei es doch erstaunlich, daß in der Anstalt so wenig Suizide vorkämen. Der eine oder der andere versuche es ja mal, aber selten einer ernsthaft.

Einmal habe sich einer erhängt. Einer von den Volkspolizisten, die ihn brachten, habe bemängelt, dem sei dabei ja nicht mal einer abgegangen. - Walter Kempowski, Im Block. Frankfurt am Main 1972 (zuerst 1969)

Selbstmord  (22)   Nachdem ich meine Flasche und ihre Botschaft dem Meer anvertraut habe, werde ich auf mein Zimmer gehen und mich aufs Bett legen. An meiner Brille ist ein harmloses Stück schwarze, dünne Schnur befestigt, aber es ist Gummiband. Ich werde mich mit meinem ganzen Körpergewicht auf die Brille legen. Die Schnur winde ich vorher um den Türgriff und verbinde sie, nicht zu fest, mit dem Revolver. Dann wird meiner Berechnung nach folgendes geschehen: Mit der durch ein Taschentuch geschützten Hand werde ich auf den Abzug drücken. Meine Hand fällt herunter, der Revolver schnellt, vom Gummiband gezogen, in Richtung Tür. Er prallt gegen den Türgriff, löst sich dadurch von dem Gummiband und fällt auf den Boden. Das Gummiband gleitet vom Griff und hängt jetzt unschuldig von der Brille unter meinem Körper herunter. Das auf dem Boden liegende Taschentuch wird nicht weiter auffallen.
So wird man mich finden, ordentlich auf dem Bett ausgestreckt, durch den Kopf geschossen, so daß die Notizen und Tagebucheintragungen meiner Mitopfer wieder stimmen. Wenn man später unsere Leichen untersucht, dürfte die genaue Todeszeit nicht mehr festzustellen sein. Das Meer wird sich beruhigen, vom Festland werden Boote und Menschen kommen.

Und man wird auf Nigger Island zehn Tote entdecken und eine Serie von Morden, die nicht aufzuklären ist. - Agatha Christie, Zehn kleine Negerlein. München u.a. 1996 (zuerst 1951)

Selbstmord  (23)   Aisakos fühlt sich schuldig am Tod der Nymphe, der er nachgestellt hat. Wie er sich vom Felsen stürzt, wird der in einen Tauchervogel umgewandelt: »Entrüstet, daß er wider Willen zum Leben genötigt und seiner Seele verwehrt wird, ihre elende Wohnung zu verlassen, fliegt der Liebende, kaum daß er an den Schultern die neuen Flügel bekam, hoch hinauf und stürzt sich abermals auf die Fluten nieder. Doch sein Gefieder läßt ihn nicht sinken. Aisakos tobt, taucht kopfüber in die Tiefe und sucht unaufhörlich einen Weg in den Tod.«  - Ovid, nach (loe2)

Selbstmord  (24)   Im Jahre 1821 konnte ich nur mit größter  Überwindung  der Versuchung widerstehen, mich totzuschießen. Ich zeichnete eine Pistole auf den Rand eines schlechten Liebesdramas, das ich damals (in meiner Wohnung in der Casa Acerbi) zusammenstümperte. Mir ist, als habe mich meine politische Neugier davon abgehalten, ein Ende zu machen; vielleicht aber war es auch, ohne daß es mir bewußt wurde, die Angst, ich könnte mir weh tun. - (ele)

Selbstmord  (25)

Selbstmord  (26) Es heißt, man bringe sich aus Liebeskummer um, aus Angst, oder weil man die Syphilis hat. Das stimmt aber nicht. Alle Menschen lieben oder meinen, sie liebten. Alle haben Angst. Jedermann ist mehr oder weniger syphilitisch. Selbstmord ist ein Ausleseverfahren. Nur die nehmen sich das Leben, die nicht aus einer Feigheit heraus, von der nahezu die gesamte Menschheit befallen ist, eine gewisse Stimmung unterdrücken, die an sich so überwältigend ist, daß sie einstweilen, d. h. bis wir klarer sehen, als ein Erfühlen der Wahrheit betrachtet werden muß. Aufgrund dieses Gefühls allein kann man die wohl richtigste und radikalste aller Lösungen erkennen und bejahen: den Selbstmord.   - René Crevel, nach: Maurice Nadeau, Geschichte des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg 1986 (zuerst 1945, re 437)
 

Todesarten Mord Selbst

Oberbegriffe

zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 

Unterbegriffe

{?}

VB

Synonyme