Selbstmodell   Metzingers Grundgedanke lautet, stark vereinfacht: Das Gehirn ist ein informationsverarbeitendes System. Sämtliche Wahrnehmungen — auch die innerer emotionaler Zustände — werden zu einer Repräsentation der Welt zusammengefügt, die in sich möglichst geschlossen und logisch konsistent ist. Dazu gehört auch die Selbstwahrnehmung des Körpers. Das Gehirn macht sich ein Modell des Körpers, das dessen Bedürfnissen angepaßt ist. Das könnte auch eine Erklärung für psychosomatische Erkrankungen liefern. «Hat man zum Beispiel Magenkrämpfe, dann wirkt das Gehirn auf das vegetative Nervensystem ein. Das kann jedoch nur funktionieren, wenn das Gehirn eine Karte des eigenen Körpers gespeichert hat, so daß die Reaktion auch an die richtige Stelle gelangt.»

Die Abbildung im Gehirn ist allerdings nicht maßstabsgetreu. Es kommt nicht darauf an, daß das geistige Modell völlig mit der äußeren Realität übereinstimmt, entscheidend ist, daß es ein sinnvolles Reagieren erlaubt. Und eine ähnliche Modellbildung findet auch auf anderen Ebenen statt. Um etwa sozial erfolgreich interagieren zu können, entwirft das Gehirn eine Selbstrepräsentation der eigenen Person in Abgrenzung von Mitmensch und Umwelt. Und diese Modellbildung wiederum ist so  effektiv, daß wir sie gewöhnlich überhaupt nicht wahrnehmen. «Der Organismus verwechselt sich gleichsam mit dem Inhalt seiner Repräsentation und hält sein Selbstmodell für die Wirklichkeit. Erst dadurch wird es richtig effizient.»

Nur in extremen Situationen bricht diese perfekte Illusion zusammen. Ein spirituelles Erleuchtungserlebnis etwa wäre vermutlich jener Moment, in dem man eben diese ständige Konstruktion des Gehirns durchschaut — die Welt der Illusionen, wie es im Buddhismus genannt wird. Doch: Wer durchschaut hier eigentlich wen?

Eine Störung der Selbstmodellierungsfunktion kann allerdings auch verheerende Folgen haben. Sogenannte multiple Persönlichkeiten beispielsweise entwickeln statt eines kohärenten Selbstbildes deren mehrere und leiden unter dieser Anomalie zum Teil entsetzlich. Doch: Wer leidet hier eigentlich?

Auch bei schizophrenen Patienten oder anderen Geisteskrankheiten ist offenbar die Fähigkeit zur mentalen Konstruktion eines kohärenten Selbst gestört — und damit auch die Möglichkeit zum sinnvollen Interagieren mit der Umwelt. «Viele pathologische Grenzzustände kann man als Formen gestörter Selbstmodellierung erklären», meint Metzinger.

Doch auch wenn das alles einigermaßen plausibel klingt — wie soll man sich denn nun konkret vorstellen, daß das Selbst-Bewußtsein der Inhalt eines Modells ist? Thomas Metzinger setzt einen Tee auf und sagt: «Wenn die Leute zum erstenmal von meiner Theorie hören, finden sie sie meist furchtbar interessant, aber dann gehen gleich die Mißverständnisse los. Man kann zum Beispiel nicht einfach sagen: ‹Okay, ich bin also bloß mein Selbstmodell.› Denn was heißt denn dabei mein Modell? Wer ist das, der da von ‹mein› spricht? Das ist ein logischer Fehler», räsoniert der junge Philosoph. «Denn ich bin eine Ganzheit, die aus meinem Körper und dem Inhalt des von ihm in diesem Augenblick erzeugten Selbstmodells entsteht. Ich bin das Gesamtsystem, mit Haut und Haaren — nur kann ich zwischen Körper und Selbstmodell im bewußten Erleben nicht unterscheiden. Das Schweregefühl in meinem Körper jetzt, der Kontakt zur Sitzfläche — auch das ist das Selbstmodell, nicht nur das Denken.» Um im Bild zu bleiben: Das Ich ist eine Illusion, die, recht betrachtet, niemandes Illusion ist.

An diesem Punkt wird es dem Besucher langsam ungemütlich. Was bleibt denn dann noch übrig? Wie steht es etwa mit dem freien Willen oder der eigenen Verantwortung? Was, wenn in Zukunft etwa ein Verbrecher einfach behauptete, er sei niemand? « So leicht entkommen wir der Verantwortung nicht», erklärt Metzinger bedächtig und gießt Tee ein. «Wer einfach sagt, er sei niemand oder habe keinen freien Willen, ist ein Heuchler. Für die großen Heiligen oder Mystiker mag das anders sein. Aber die meisten von uns sind keine Erleuchteten: Wir können dieser Illusion, jemand zu sein, nicht entkommen. » Aber werden wir nicht genau dadurch eben erst zu jemand? Und ist die Ich-Illusion, die niemandes Illusion ist, dann vielleicht am Ende doch keine Illusion?

Thomas Metzinger nimmt einen tiefen Schluck aus der Tasse und setzt noch einmal zu einer Erklärung an. «Man muß dabei auch immer das gesamte System im Blick haben. Es gibt ja einen großen Teil des Selbstmodells, der völlig unbewußt ist. Der bewußte Teil dagegen wird eine bestimmte Funktion haben; das Gesamtsystem erklärt sich offenbar damit noch einmal gewisse Prozesse selbst und macht sie so für das eigene Handeln verfügbar. Dadurch entsteht etwas wesentlich Größeres, nämlich eine Gesamteinheit, die auf sehr komplizierte Art und Weise in sich selbst wechselwirkt. Für die Willensfreiheit muß man immer die Person als Ganzes sehen, also physikalisches System plus aktives Selbstmodell plus die daraus resultierenden Globaleigenschaften —  und dieses System als Ganzes trägt sehr wohl Verantwortung.» Freilich gibt der Philosoph auch bereitwillig zu, daß seine Theorie noch einiger Verfeinerungen bedarf. « Es gibt noch viele Aspekte, die integriert werden müssen, zum Beispiel die Tatsache, daß ein großer Teil des Selbstmodells sozial generiert ist. Die Bildung von Gesellschaften wird erst dadurch möglich, daß sich ihre Mitglieder als jemand erleben. Das Zusammenleben in solchen Gesellschaften wiederum festigt dieses Gefühl und hebt es auf eine höhere Ebene. Die subjektive Identität, unser Jemand-Sein, entsteht also aus dem Wechselspiel von biologischer und sozialer Evolution.» Doch genau wie in einer Gesellschaft kann es auch in einer Person Subsysteme geben, die im Widerspruch zueinander stehen. «Ein ›gutes‹ Selbstmodell könnte also eines sein, das offen für Veränderungen ist und trotzdem hochgradig kohärent bleibt; dem es also nie passiert, daß ein Subsystem die Handlungskontrolle übernimmt und Fehler begeht, für die dann das System als Ganzes büßen muß.»

Das klingt recht abstrakt und in gewisser Weise szientistisch. Ist denn von der schönen alten Seele gar nichts mehr zu retten? «Der Begriff des Selbstmodells ist in gewisser Weise das, was man früher die Seele nannte», tröstet Metzinger. «In dieser Betrachtungsweise gibt es allerdings für das Selbstmodell keinen Grund mehr, weiterzuleben, wenn der Körper stirbt. Das Selbstmodell verschwindet einfach mit dem Tod.» Das sei eine bittere Pille, meint der Philosoph, und wer so tue, als ob ihm das gleichgültig sei, der mache sich vermutlich etwas vor. «Aber viele andere Vorstellungen, die die Menschheit im Laufe ihrer Geschichte über die ›Seele‹ gesammelt hat, bleiben nach wie vor gültig. Es gibt zum Beispiel einen großen Reichtum von Einsichten darüber, wie man seine Seele pflegt oder, um es in der neuen Terminologie auszudrücken, wie man ein schönes, ein gesundes Selbstmodell bekommt und verhindert, daß es kaputtgeht oder krank wird. Diese Erfahrungen gelten weiterhin.»  Auch Thomas Metzinger, der lange Spaziergänge in der Natur liebt, weiß um die Wichtigkeit solcher Seelenpflege. « Immerhin zeichnen wir uns in dem uns bekannten Teil des Universums dadurch aus, daß wir vermutlich die einzigen physikalischen Systeme sind, die ein so komplexes und doch kohärentes Selbstmodell haben.»

Aber Thomas Metzinger ist ein Denker, der es sich nicht einfach macht. Offen gibt er zu, daß er nicht frei von Selbstzweifeln ist. Auch hat er ein gespaltenes Verhältnis zu jenen esoterisch angehauchten Bewußtseinsforschern, die meinen, man könne nun endlich westliche Wissenschaft und östliche Mystik miteinander versöhnen. Schließlich vertreten buddhistische Philosophen schon lange die Ansicht, die Welt (und damit auch das Ich) sei nichts als eine große Illusion. Auch Metzinger ist von der Vorstellung fasziniert, daß «dieser beste Gedanke aus der asiatischen Philosophie des Geistes ausgerechnet das brennendste Problem der westlichen Wissenschaft lösen könnte». Dennoch möchte er mit dem ganzen «mythologischen Ballast», der damit einhergeht, nichts zu tun haben. Und die Neigung mancher Kollegen, in Publikationen über eigene mystische Erlebnisse zu berichten und über Erleuchtung zu philosophieren, hält er für «mehr als peinlich». Zwar könne man Erleuchtung vielleicht als das Durchsichtigwerden des Selbstmodells erklären. «Doch eines ist klar: Dadurch, daß man das intellektuell verstanden zu haben glaubt, wird man noch lange nicht erleuchtet», sagt Metzinger mit Schärfe. - (kopf)

 

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