ekte   Solange sie bestand, war sie eine stolze und aufwieglerische Sekte schwermütiger und bizarrer Leute. Gegründet wurde sie von einem abtrünnigen Mönch, von dem man fabelt, daß er zeit seines Lebens auf verschiedene Weise sich mit den Toten in Verbindung zu setzen suchte; daß er so lächerlich geringe oder vielmehr aufreizende Resultate erzeugte, daß er schließlich eine glühende Abneigung gegen die Verstorbenen empfand, die sich zur Entrüstung, zum Haß, zu Wut und Raserei auswuchs. Und aus diesem seinem Zorn oder seiner Wut hatte er eine Doktrin entwickelt, die wir folgendermaßen zusammenzufassen wagen:

1 Sterben ist unmoralisch: wer stirbt, zerreißt die lebendige Syntax der menschlichen Konversation, entzieht sich den kollektiven Unternehmen der Zuneigungen und der Pflichten; er wird zum Banditen, zum Deserteur jeglicher menschlichen Gefolgschaft;

2 Der Tote ist also ein Regelloser, ein Rowdy, ein Schurke; das erweist sich an den Untaten der Gespenster, die Streiche von Gesindel sind, von Laternenzertrümmerern, von Großmutterschändern.

3 Der Tote schweigt oder faselt, nicht weil er nicht anders könnte: vielmehr weil er sich lustig macht über unsere Süchte, er führt uns irre, weicht aus und enttäuscht uns; er lacht uns aus; jene, so behauptete er, halten ihren Hinschied quasi für einen Doktortitel oder einen Ritterbrief und behandeln, hochmütig und ungeschliffen wie sie sind, die Lebenden wie Schulbuben, die noch ihre vor-agonistischen ABC-Striche malen;

4 Schließlich schlug er vor, den Toten alles mit Unverfrorenheiten und Beleidigungen jeder Art heimzuzahlen. Schändet, beschmutzt die Leichen, predigte er; werft sie zu den Hunden, den Hunden; in die Friedhöfe, Aborte und Bordelle; bei den Beerdigungen Chöre von Unverschämtheiten; auf die Grabsteine Schimpf und Schmähungen!

Es lag etwas Heldenmütiges und Verzweifeltes in dieser Predigt, und eine Zeitlang genoß die Sekte die stillschweigende Gunst der Nachdenklichen. Dann begannen auch die Totenhasser dahinzusterben: und keine Mahnung an die Verpflichtung vor der Doktrin, kein Ordnungsruf schien in der Lage, sie von einem so folgenreichen, ja, ideologisch nicht wieder gutzumachenden Schritt abhalten zu können; weswegen sich bei den Zeitgenossen der Verdacht einschlich, daß jene hinterhältig seien, aufrecht nur in Worten, in den Tatsachen aber höchst verderbt; vielleicht gar, unter der Larve von Widersachern, tatsächlich Komplizen oder Bestochene des Todes und der Toten; und das Flüstern wuchs sich aus zu Schreien und universalem Spott, als schließlich der Anführer den Lockungen des Hinscheidens nachgeben mußte - zwar widerstand er ihnen, so lang er konnte, aber schließlich mußte er kapitulieren: dabei behauptete er jedoch, und zwar mehr ausgeklügelt als ehrlich, daß sein Hinscheiden aufgrund sehr ernsthafter Studienabsichten und zur Materialsammlung erfolge. - Giorgio Manganelli, Diskurs über die Schwierigkeit, mit den Toten zu sprechen. In: G. M., An künftige Götter. Sechs Geschichten. Berlin 1983 (Wagenbach Quartheft 123, zuerst 1972)

Sekte (2) Ein leiser Schauer ging durch das Land, wo die 'Wahrhaft Schwachen' erschienen. Ihr Name Wu-wei war seit Monaten wieder in allen Mündern. Sie hatten keine Wohnstätten; sie bettelten um den Reis, den Bohnenbrei, den sie brauchten, halfen den Bauern, Handwerkern bei der Arbeit. Sie predigten nicht, suchten niemanden zu bekehren. Vergeblich bemühten sich Literaten, die sich unter sie mischten, ein religiöses Dogma von ihnen zu hören. Sie hatten keine Götterbilder, sprachen nicht vom Rade des Daseins. Nachts schlugen viele ihr Lager auf unter Felsen, in den riesigen Waldungen, Berghöhlen. Ein lautes Seufzen und Weinen erhob sich oft von ihren Raststätten. Das waren die jungen Brüder und Schwestern. Viele aßen kein Fleisch, brachen keine Blumen um, schienen Freundschaft mit den Pflanzen, Tieren und Steinen zu halten. - Alfred Döblin, Die drei Sprünge des Wang-lun. München 1970 (zuerst 1915)

Sekte (3)

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