Seite, vollkommene   Die vollkommene Seite, die Seite, auf der kein Wort ohne Schaden verändert werden kann, ist von allen die gefährdetste. Sprachliche Veränderungen verwischen die mitschwingenden Bedeutungen und die Nuancen; die »vollkommene« Seite besteht aber gerade aus diesen feinen Abtönungen und ist der Abnutzung am meisten ausgesetzt. Dagegen kann umgekehrt die Seite, die zur Unsterblichkeit berufen ist, das Fegefeuer der Druckfehler, der annähernden Wendungen, der unachtsamen Lesarten, des Unverständnisses durchmessen, ohne bei dieser Feuerprobe ihre Seele einzubüßen. Es ist sträflich, auch nur eine der von Gongora fabrizierten Zeilen abzuändern (versichern die Herausgeber, die den Originaltext wiederherstellen); dagegen gewinnt der Don Quijote im Kampf mit seinen Übersetzern posthume Schlachten und überlebt jede verwahrloste Fassung. Heine, der ihn nie auf Spanisch gehört hat, brachte ihn zu ewigem Ruhm. In dem deutschen, dem skandinavischen, dem indischen Geist des Quijote steckt mehr Leben als in den ängstlich beflissenen Wortklaubereien der Stilisten.

Es wäre mir unlieb, sollte die Moral dieser Feststellung so verstanden werden, als entspringe sie der Verzweiflung oder dem Nihilismus. Ich habe nicht vor, Nachlässigkeiten das Wort zu reden; auch glaube ich nicht an eine mystische Kraft des plumpen Satzes und des gestümperten Epithetons. Ich behaupte nur, daß der bewußte Verzicht auf diese zwei oder drei Zierden minderen Ranges - Zerstreuungen: optische der Metapher, akustische des Rhythmus, überraschende von Interjektion und Hyperbaton - für gewöhnlich der Beweis sind, daß der Schriftsteller von der Leidenschaft für ein Thema beherrscht ist, mehr nicht. - Jorge Luis Borges, Die abergläubische Ethik des Lesers. In: J.L.B., Kabbala und Tango. Essays. Frankfurt am Main 1991

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