Seinsenteignung   Jetzt trug der Gascogner seinen kopflosen Zwilling an mir vorüber. Das war dann auch der Augenblick, in dem es begann: Wie ihm ein zweiter Körper aus dem Bauch, begann aus dem meinen mir ein zweiter Kopf zu wachsen. Er wurde größer, je schlimmer ich die Leere in meinem ersten empfand, in dem sich die Leere ausdehnte mit einer Geschwindigkeit, in welcher der zweite an Gesicht gewann, mit dem er dem Monster nachblickte, wie übrigens mein erster auch, aber ungleich ungleichgültiger, auch brüderlicher, da er wahrscheinlich mehr den Getragenen als den Träger im Auge hatte, vielleicht insbesondere deshalb, weil diesem fehlte, was er war, oder ganz einfach in dem Gefühl: ergänzen zu müssen, was der Gascogner nur zum Teil mit sich herumtrug. Und schließlich erfaßte mich der Schwindel; ich wäre zu Boden gegangen, hätte Monsieur Lacan mich nicht gestützt. Ich umfing ihn. Er war mir Halt in einem Augenblick, in dem auf meinem Bauch die zweite noch unvollendete Person eines Monsters seine Ergänzung gestaltete, indem sie sich das Sein meiner selbst aneignete, derart rigoros, daß ich aus meinem ersten Kopf nur noch blöde grinsen konnte, der sich derart kopflos benahm, daß Monsieur Lacan sich mit uns im Kreise herumdrehen mußte, bald aber nach unserer rechten Hand faßte und wieder Schritt gewann, um sofort auch in gerader Richtung mit uns dem Gascogner und seinem Fragment nachzueilen.

Und wie Lacan im Laufe ausführte, war er der gelehrten Meinung, meine Übelkeit und die Leere im Kopf seien das Ergebnis meiner von mir selbst in Auftrag gegebenen Enteignung des Seins meiner selbst, weshalb mich jetzt mein Objekt, nämlich der unwahrscheinlich wohlgebildete Kopf auf meinem Bauch, auftragsgemäß befremden müsse.

Und weil es mir nun nicht mehr anders möglich war, wurde ihm die Antwort aus meinem zweiten Mund gegeben: Es handelt sich, wurde ihm erklärt, wie Sie sehen können, um die Enteignung des Seins eines Regisseurs, entsprechend imaginär, der also einen zweiten Kopf aus sich geboren, notabene aus seinem Bauch, nicht etwa deshalb, um diesem Monster, das er dem Buche eines von ihm sehr verehrten Schriftstellers entnommen, zu einer quasi monströsen Normalität zu verhelfen, sondern, um dessen Monstrosität auf eine Art und Weise zu ergänzen, wie sie diese weder vergrößern noch verkleinern könne, wie sie allenfalls diese instand setzt: mit sich selbst ins Gespräch zu kommen. Nun also: als der zweite Kopf dieses Regisseurs muß ich es - und zwar in seinem Auftrag -ablehnen, ein Gespräch mit Ihnen zu führen, da Sie in einem solchen nur versuchen würden, seine Enteignung, die er zuließ, wieder rückgängig zu machen - Sie also Ihre Aufgabe nur darin sehen können, dem Subjekt zur Aneignung seiner selbst zu verhelfen, indem Sie mich wieder enteignen. Sie würden damit aber nur ein für den Regisseur notwendiges Detail, welches er an dem Monster aus dem Buche eines anderen Schriftstellers anbringen wollte, vernichten. Ich glaube deshalb, im Auftrage dieses Regisseurs zu sprechen, wenn ich behaupte: mit dieser Enteignung würden Sie dem Regisseur ins Handwerk pfuschen; vielleicht handelt es sich aber sogar um das Handwerk eines Dichters, und in diesem Betracht muß ich Sie an die Behutsamkeit Ihres Vaters Freud erinnern. - Soweit die Rede meines zweiten Kopfes.   - Paul Wühr, Das falsche Buch. Frankfurt am Main 1985

Sein

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