eiltanz  Wir nehmen Dinge wahr vermöge unsrer Sinnlichkeit. Aber was wir wahrnehmen sind nicht die Dinge selbst, das Auge schafft das Licht und das Ohr die Töne. Sie sind außer uns nichts. Wir leihen ihnen dieses. Ebenso ist es mit dem Raume, und der Zeit. Auch wenn wir die Existenz Gottes nicht fühlen, beweisen können wir sie nicht.

Alle diese Dinge führen auf Eines hinaus. Es ist aber nicht möglich sich hiervon ohne tiefes Denken zu überzeugen. Man kann Kantische Philosophie in gewissen Jahren glaube ich ebensowenig lernen als das Seiltanzen.   - (licht)

Seiltanz (2)

- N. N.

Seiltanz (3) Eine nach Hunderttausenden zählende Menschenmenge umsäumte die Ufer des Niagarafalles, sowohl an der amerikanischen, wie auch an der kanadischen Seite.

Ein unglaublicher Lärm herrschte hier. Die Menschen schrien sich an, und leidenschaftlich wurden die Aussichten für das Gelingen des kühnen Unternehmens besprochen. »Es ist ein frevelhaftes Spiel, das dieser Mann treibt!< sagte ein Mann, dem man den Clergyman auch ohne den charakteristischen Anzug mit dem niedrigen, vorn geschlossenen Stehkragen angesehen hätte.

»Warum?« schrie ein robust aussehender Mann. »Sie haben natürlich kein Verständnis für das, was Mut ist. Sie würden ein solches Wagnis nicht unternehmen — das glaube ich!« Ein Gelächter belohnte den Mann für seinen rohen Scherz. Dann hörte man wieder eine Zeitlang nichts als das laute Rufen der Buchmacher, die auf Stühlen inmitten der Menschenmenge standen und die Odds ihrer Wetten für und gegen das Gelingen der Überquerung des Falls auf dem Drahtseil ausriefen.

Dort, wo die Ufer am engsten zusammentreten, wo zwischen ihnen der gewaltige Wasserfall des Flusses donnernd und brausend herniederstürzt und die aus dem Flußbett emporragenden, tausenfach gezackten Felsen wütend peitscht, war ein festes Drahtseil gezogen, dessen beide Enden von je vier Detektiven bewacht wurden, damit keine verbrecherische Hand sich daran vergreife.

Um zwölf Uhr mittags ertönte ein Kanonenschuß, dann ging eine gewaltige Bewegung durch die versammelte Menge, denn aus einem Zelt am amerikanischen Ufer waren die beiden Männer herausgetreten, die das unerhörte Wagnis unternehmen wollten.

Monsieur Blondin befand sich in seiner üblichen Seiltänzertracht, Percy Stuart war schneeweiß angezogen und trug einen breiten Panamahut, der ihn gegen die Strahlen der Sonne schützen sollte.

»Also vorwärts, mein lieber Freund«, sagte Percy Stuart, »begeben wir uns auf das Drahtseil!«

»Es ist vielleicht eine Reise in den Tod!« stieß jetzt der Seiltänzer, der auffallend bleich geworden war, mit tonloser Stimme hervor.

»Wie, Monsieur Blondin, Sie werden doch nicht im letzten Moment mutlos werden? Bedenken Sie, daß die Augen von vielen hunderttausend Menschen auf Sie gerichtet sind, Ihr ganzer Ruf steht auf dem Spiele, gelingt es Ihnen heute, mit mir den Niagarafall zu überschreiten, so sind Sie der berühmteste Seiltänzer der Welt, und goldene Engagements stehen Ihnen bevor!«

»Ich weiß, ich weiß alles«, erwiderte Blondin, »und ich werde nicht zittern, verlassen Sie sich darauf. Aber ich habe mir noch ein wenig Kognak bestellt, Kognak nehme ich vor jeder meiner Vorstellungen, ah, da ist ja bereits das Zimmermädchen aus dem Hotel, das ich damit beauftragt habe, ihn mir zu bringen, sehen Sie, sie bringt dort bereits meine Flasche! «

Das blonde Stubenmädchen näherte sich dem Artisten, präsentierte ihm ein Tablett, auf dem eine Flasche Kognak und ein Glas standen.

Schnell goß Blondin drei Gläser Kognak hinunter. »Wollen Sie nicht auch eine kleine Aufmunterung nehmen?« fragte er Percy Stuart.

»Danke, ich verachte den Alkohol. Die wahre Aufmunterung quillt einem Menschen aus seiner Energie und seiner geistigen Kraft.«

»Gehen wir also ans Werk!«

Mit diesen Worten begann Blondin die schmale Leiter emporzusteigen, die zu dem Drahtseil emporführte, und Percy Stuart folgte ihm gewandt.

Mit einem orkanähnlichen Beifall wurden die beiden kühnen Männer jetzt begrüßt.

Blondin ließ sich seine schwere Balancierstange reichen, bückte sich dann, immer noch auf der Leiter stehend, und Percy Stuart kletterte auf seinen Rücken.

»Sitze ich gut und bequem, Blondin?« fragte er. »Ausgezeichnet, wohlan denn. Unser Spaziergang kann beginnen! «

Blondin betrat mit festen Schritten das Drahtseil. Percy Stuart saß vollkommen ruhig und gelassen auf seinem Rücken und bemühte sich, den kühnen, unerschrockenen Seiltänzer so wenig wie möglich zu hindern.

Unter sich sah er die gewaltige, brausende, zischende Wassermasse.

Nun hatten sie schon fast die Hälfte des Seiles hinter sich. In Percy Stuart, der die anfängliche Unruhe mit seiner Energie schnell niedergekämpft hatte, stieg ein starkes Gefühl der Befriedigung auf. Er fühlte sich auf dem Rücken des zwar vorsichtig, aber doch ruhig dahinschreitenden Seiltänzers ganz sicher.

Da blieb Blondin plötzlich stehen, und in diesem Augenblick bemerkte Percy Stuart, daß der berühmte Seiltänzer unter ihm zu wanken begann.

»Teufel, was ist Ihnen, Blondin?«

»Mir wird plötzlich so schwarz vor den Augen, ein unerträglicher Schmerz im Magen, Übelkeit, ich, barmherziger Gott, ich glaube, ich kann nicht weiter, wir sind verloren!« »Noch nicht«, antwortete Percy Stuart, »halten Sie sich nur, so gut es geht, aufrecht, können Sie mich nicht über den Niagarafall tragen, so will ich versuchen, Sie hinüberzuschaffen und zu retten!«

Percy glitt bei diesen Worten von dem Rücken Blondins herab, umklammerte das Drahtseil mit den Beinen und Händen und rief, mit dem Körper unterhalb des Seiles hängend, Blondin zu:

»Jetzt lassen Sie sich nieder, werfen Sie die Balancierstange fort und setzen Sie sich auf meinen Leib, ich halte mich mit den Knien fest und ziehe mich mit den Händen an dem Seil entlang, wenn Sie sich nur auf mir halten können, dann geht es — nur Mut — nur Mut!«

Blondin tat, was ihn Percy Stuart hieß, und mit seinen letzten Kräften klammerte er sich an diesen, der, unterhalb des Drahtseils hängend, sich langsam daran fortzuziehen begann.

Percy Stuart blickte hinauf zum Himmel und hörte unter sich das Toben des Wasserfalles.

Blondin stöhnte und beteuerte immer und immer wieder, daß ihm todübel sei.

Da plötzlich vernahm Percy Stuart ein Brausen, das aus vielen hunderttausend Kehlen vom Ufer zu ihm hinüberklang. Er hörte, wie man jubelte, jauchzte, schon sah er das am unteren Ende des Seiles befindliche kleine Podium vor sich, von dem aus die Leiter zum festen Boden hinabführte. Noch ein paar Griffe, dann hatte Percy Stuart die Plattform erreicht und landete mit dem geretteten Blondin auf dem Podium.

»Mein Ruf, mein Ruf ist dahin, ich bin ruiniert!« stöhnte Blondin, als er ihn absetzte.

»Still, wir werden behaupten, daß es ein verabredeter Trick war. Sie bleiben der berühmteste Seiltänzer der Welt, Blondin!«

Als die beiden Männer über die Leiter herabgestiegen waren, wurden sie von der Menge, die sich nicht halten ließ, jubelnd umnngt.

Als Percy und Blondin eine halbe Stunde später wieder am amerikanischen Ufer landeten und auch dort von einem beispiellosen Beifall überschüttet wurden, stand plötzlich, wie aus der Erde emporgetaucht, das blonde Stubenmädchen aus dem Hotel vor ihnen.

»Du lebst?« schrie sie mit gellender Stimme Blondin ins Gesicht. »Das Gift, das ich dir in den Kognak schüttete, hat also nicht gewirkt, nun denn, so sollst du unter meinem Dolche sterben! «

Aber schon hatte Percy Stuart ihre mit einem Dolche bewehrte Hand gepackt, ein Druck, sie ließ die Waffe fallen. Dann aber riß Percy Stuart ihr die blonde Perücke vom Haupte und rief Blondin zu:

»Sie sind also der treulose Gatte, den das junge Weib sucht! Wie konnten Sie dieses arme junge Weib verlassen?!«

»Gabriele«, schrie Blondin und streckte der schönen jungen Frau zitternd die Hände entgegen, »Gabriele, ich zweifelte an deiner Treue, Eifersucht war es, die mich von dir wegtrieb, vergib mir!«

Und sie vergab. Percy Stuart aber vereinigte das glücklich liebende Paar und gab ihm zu Ehren am Abend ein großes Souper.  - Walter Gernsheim: Percy Stuart - Auf dem Drahtseil über den Niagara. Aus: Die großen Detektive, Bd. 2. Hg. Werner Berthel, Frankfurt am Main 1980 (it 368)

Seiltanz (4)

- Bosc, Love and Order. Zürich 1973 (Diogenes, detebe 44)

Seiltanz (5)

- Heinrich Kley

Seil Zirkus Gleichgewicht
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