eiltänzer 
 

DER SEILTÄNZER

SOHN. Vata, wat hat er denn da vor 'ne Stange?
VATER. Det is seine Blangsierstange.
SOHN. Zu wat braucht er die denn?
VATER. Da hält er sich dran feste,
SOHN. Ick denke, er braucht sich nich halten, er looft so.
VATER. Schafskopp! An wat muß er sich doch halten; sonst fällt er ja runter.
SOHN. Aba Vata, wenn nu die Blangsierstange fällt?
VATER. Unsinn! Wovon soll die denn fallen? Er hält ihr doch feste.

 - Adolf Glassbrenner, nach: Hans Meyer, Siegfried Mauermann (Bearb. Walther Kiaulehn): Der richtige Berliner. München. 1985 u. ö.

Seiltänzer (2)

Die Seiltänzer

Sie gehen über den gespannten Seilen
und schwanken manchmal, fast, als wenn sie fallen.
Und ihre Hände schweben über allen,
die flatternd in dem leeren Raum verweilen.

Das Haus ist übervoll mit tausend Köpfen,
die wachsen aus den Gurgeln steil und starren,
wo oben hoch die dünnen Seile knarren.
Und Stille hört man langsam tröpfeln.

Die Tänzer aber gleiten hin geschwinde
wie weiße Vögel, die die Wandrer narren
und oben hoch im leeren Räume springen.

Wesenlos, seltsam, wie sie sich verrenken
und ihre großen Drachenschirme schwingen,
und dünner Beifall klappert von den Bänken.

- Georg Heym, nach (mus)

Seiltänzer (3)   Der Flohtrainer, ein verhutzelter Schurke, stellte zwei kleine hölzerne Klötze auf den Tisch, einer dieser Klötze hatte eine Reihe winziger Stufen eingeschnitzt. Zwischen diesen Klötzen sah ich, straff von einem zum anderen gespannt, ein einzelnes dunkles Haar - offensichtlich vom Kopf des Trainers, denn es glänzte fettig im trüben Licht, das uns umgab. Dann setzte der Trainer Kasimir auf den Tisch und legte eine glänzende Nadel vor den Floh, die er aus seinem Jackettaufschlag zog und die gut ihre fünf Zentimeter lang war.

Ich traute meinen Augen kaum. Für einen Floh war diese Nadel etwa so lang, wie eine Eisenbahnschiene für mich gewesen wäre. Und dennoch, Kasimir bückte sich, kriegte sie in den Griff und hob sie dann plötzlich mit geschwellten Muskeln über den Kopf. Ich keuchte vor Aufregung, aber noch hatte ich nicht alles gesehen, was dieses herrliche Geschöpf zu vollbringen imstande war. Er hielt die Nadel über den Kopf und näherte sich damit den Stufen, erklomm sie, und dann, unendlich langsam, unendlich vorsichtig, begab er sich auf das gespannte Haar. Unter dem Gewicht sackte das Haar durch, und Kasimir mußte sich anstrengen, um die Balance zu halten. Aber nun - mit präzisen Schritten, mit einer Sicherheit, als sei er an diesem Haar festgeklebt - spazierte er darauf entlang bis ans andere Ende, die Nadel hielt er dabei hoch über dem Kopf, und sie schwankte nicht einen Augenblick, so fest hatte er sie im Griff. Erst als der zweite Klotz erreicht, die Nadel wieder niedergelegt war, erst da konnte man am krampfhaften Zittern seines Körpers und daran, wie sich seine Brust hob und senkte, erkennen, was für eine ungeheure Anstrengung es für ihn gewesen sein mußte. Und ehe noch der Beifall losbrach, wußte ich, daß meine Suche zu Ende war. Sechs Stunden später, nach leidenschaftlichem Feilschen und endlosen Runden Slibowitz, hatte ich den Vertrag für Kasimir in der Tasche.  - Stanley Ellin, Beidenbauers Floh. In: St.E., Der Acht-Stunden-Mann. Bern u. München 1986

Seiltänzer (5)  

Seiltänzer (6)  Ja, ich lief los, ich lief mit einer Mühe, die nicht größer war als jene, welche jeder des Gehens mächtige Mensch hat, wenn er mit ausgebreiteten Armen über einen glatten, dicken Baumstamm läuft. Das Orchester spielte einen Marsch. Ich setzte meine Füße im Takt der Musik, bewegte die Stange mehr zu meinem eigenen Vergnügen als aus Notwendigkeit, denn, ich wiederhole es, nach dem ersten Eindruck einer zufällig hereinbrechenden Leere befand ich mich außerhalb der tödlichen Norm. Im Normalfall hätte ich erstarren, die Selbstbeherrschung verlieren, schwanken, voller Verzweiflung abstürzen müssen, vielleicht gar, ohne versucht zu haben, mich am Draht festzuhalten. Außerhalb des Normalen erwies ich mich als -unerklärlich und vor allem selbstbewußt - stabil, ohne eine Spur von Schwindelgefühl und Unruhe. Ich war nach wie vor im Brennpunkt der spannungsgeladenen Ströme, die von der riesigen Menge ausgesandt wurden, ihre unsichtbare Wirkung schien einer physischen gleichzukommen. Ich bewegte mich in einem unsichtbaren, mein körperliches Bewußtsein restlos verschlingenden Zusammenklang der Überzeugung, des Wissens, daß ich, March, mich über das Seil bewege und bewegen werde, ohne zu fallen, solange ich selbst es wollte.

Es versteht sich von selbst, daß ich in diesen Minuten nicht mit der ausführlichen Analyse von Empfindungen beschäftigt war. Ich habe sie wieder nachvollzogen und im nachhinein analysiert. Ich dachte hauptsächlich daran, March zu beschämen, und an die Qualen, die er nun selbst ausstehen mußte, da er sah, daß seine meinen Tod betreffenden Pläne zu Staub zerfielen, und daran, daß die Seligkeit der geistigen Macht in Verbindung mit dem Marsch ›Prächtige Burschen‹ das Maximum an Begeisterung ist, das ein Mensch zu ermessen vermag.

Bei jedem meiner Schritte waren nach dem Gesetz der Schwerkraft meine Füße im Scheitelpunkt des stumpfen Winkels, den der Draht bildete. Er schwankte und antwortete auf den Druck der Füße mit mehrfachem, über die ganze Linie laufendem elastischen Wellenschlag; ich ging wie über einen Heuberg. Allmählich, ich näherte mich der Mitte des Weges, schlug der Draht immer stärker und tiefer aus. Bei dem fast völligen Schwund des physischen Bewußtseins und dem Mechanischen der Bewegungen übte dies einen äußerst merkwürdigen Eindruck auf mich aus. Es schien mir so, als gäbe es zwischen mir und dem Draht keine Verbindung außer der täuschenden Ähnlichkeit gegenseitiger Abhängigkeit, als ahme das Seil auf geheimnisvolle Weise meine Bewegungen nach und folge diesen, und als könnte ich, wenn ich es wollte, mit Erfolg auch über ihm schreiten und den Draht zwingen, genauso zu vibrieren und nach unten durchzuhängen, als würde ich auf ihm entlanglaufen.  - Alexander Grin, Das Seil. In: Phantastische Zeiten. Hg. Franz Rottensteiner. Frankfurt am Main 1986 (zuerst 1922. Phantastische Bibliothek 185)

Seiltänzer (7)  

Seiltänzer (8)  Die Seiltänzer schlafen gern am äußersten Bettrand und dann träumen sie, daß sie über ein Drahtseil von Amerika nach Europa, von Europa nach Amerika laufen.  - (cirkus)

Seiltänzer (9)

Seiltänzer (10)  Marino schätzt Seiltänzer-Metaphern. Er vergleicht den Seiltänzer mit einem Dädalus, der sich von Turm zu Turm im irren Raum schwingt. (‹Qual Dedalo nove! da torre a torre›,) Man begreift: Marino empfand sich selbst als lyrischen Seiltänzer, Er liebte Tanz und Literatur. Beides war für ihn eine ‹geometna meravigliosa.›  - Gustav René Hocke, Manierismus in der Literatur. Sprach-Alchimie und esoterische Kombinationskunst. Reinbek bei Hamburg 1969 (rde 82/83, zuerst 1959)

 

Seiltanz Tänzer

 

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