DER SEILTÄNZER SOHN. Vata, wat hat er denn da vor 'ne Stange? |
- Adolf Glassbrenner, nach: Hans Meyer, Siegfried Mauermann (Bearb. Walther Kiaulehn):
Der richtige Berliner. München. 1985 u. ö.
Seiltänzer (2)
Die Seiltänzer Sie gehen über den gespannten Seilen Das Haus ist übervoll mit tausend Köpfen, Die Tänzer aber gleiten hin geschwinde Wesenlos, seltsam, wie sie sich verrenken |
- Georg Heym, nach (
mus
)
Seiltänzer (3) Der Flohtrainer, ein verhutzelter Schurke, stellte zwei kleine hölzerne Klötze auf den Tisch, einer dieser Klötze hatte eine Reihe winziger Stufen eingeschnitzt. Zwischen diesen Klötzen sah ich, straff von einem zum anderen gespannt, ein einzelnes dunkles Haar - offensichtlich vom Kopf des Trainers, denn es glänzte fettig im trüben Licht, das uns umgab. Dann setzte der Trainer Kasimir auf den Tisch und legte eine glänzende Nadel vor den Floh, die er aus seinem Jackettaufschlag zog und die gut ihre fünf Zentimeter lang war.
Ich traute meinen Augen kaum. Für einen Floh war diese Nadel
etwa so lang, wie eine Eisenbahnschiene für mich gewesen wäre. Und dennoch,
Kasimir bückte sich, kriegte sie in den Griff und hob sie dann plötzlich mit
geschwellten Muskeln über den Kopf. Ich keuchte vor
Aufregung, aber noch hatte ich nicht alles gesehen, was dieses herrliche Geschöpf
zu vollbringen imstande war. Er hielt die Nadel über den Kopf und näherte sich
damit den Stufen, erklomm sie, und dann, unendlich langsam, unendlich vorsichtig,
begab er sich auf das gespannte Haar. Unter dem Gewicht sackte das Haar durch,
und Kasimir mußte sich anstrengen, um die Balance zu halten. Aber nun - mit
präzisen Schritten, mit einer Sicherheit, als sei er an diesem Haar festgeklebt
- spazierte er darauf entlang bis ans andere Ende, die Nadel hielt er dabei
hoch über dem Kopf, und sie schwankte nicht einen Augenblick, so fest hatte
er sie im Griff. Erst als der zweite Klotz erreicht, die Nadel wieder niedergelegt
war, erst da konnte man am krampfhaften Zittern seines Körpers und daran, wie
sich seine Brust hob und senkte, erkennen, was für eine ungeheure Anstrengung
es für ihn gewesen sein mußte. Und ehe noch der Beifall losbrach, wußte ich,
daß meine Suche zu Ende war. Sechs Stunden später, nach leidenschaftlichem Feilschen
und endlosen Runden Slibowitz, hatte ich den Vertrag für Kasimir in der Tasche.
-
Stanley Ellin, Beidenbauers Floh. In: St.E., Der Acht-Stunden-Mann.
Bern u. München 1986
Seiltänzer (5)
Seiltänzer (6) Ja, ich lief los, ich lief mit einer Mühe, die nicht größer war als jene, welche jeder des Gehens mächtige Mensch hat, wenn er mit ausgebreiteten Armen über einen glatten, dicken Baumstamm läuft. Das Orchester spielte einen Marsch. Ich setzte meine Füße im Takt der Musik, bewegte die Stange mehr zu meinem eigenen Vergnügen als aus Notwendigkeit, denn, ich wiederhole es, nach dem ersten Eindruck einer zufällig hereinbrechenden Leere befand ich mich außerhalb der tödlichen Norm. Im Normalfall hätte ich erstarren, die Selbstbeherrschung verlieren, schwanken, voller Verzweiflung abstürzen müssen, vielleicht gar, ohne versucht zu haben, mich am Draht festzuhalten. Außerhalb des Normalen erwies ich mich als -unerklärlich und vor allem selbstbewußt - stabil, ohne eine Spur von Schwindelgefühl und Unruhe. Ich war nach wie vor im Brennpunkt der spannungsgeladenen Ströme, die von der riesigen Menge ausgesandt wurden, ihre unsichtbare Wirkung schien einer physischen gleichzukommen. Ich bewegte mich in einem unsichtbaren, mein körperliches Bewußtsein restlos verschlingenden Zusammenklang der Überzeugung, des Wissens, daß ich, March, mich über das Seil bewege und bewegen werde, ohne zu fallen, solange ich selbst es wollte.
Es versteht sich von selbst, daß ich in diesen Minuten nicht mit der ausführlichen Analyse von Empfindungen beschäftigt war. Ich habe sie wieder nachvollzogen und im nachhinein analysiert. Ich dachte hauptsächlich daran, March zu beschämen, und an die Qualen, die er nun selbst ausstehen mußte, da er sah, daß seine meinen Tod betreffenden Pläne zu Staub zerfielen, und daran, daß die Seligkeit der geistigen Macht in Verbindung mit dem Marsch ›Prächtige Burschen‹ das Maximum an Begeisterung ist, das ein Mensch zu ermessen vermag.
Bei jedem meiner Schritte waren nach dem Gesetz der Schwerkraft meine Füße
im Scheitelpunkt des stumpfen Winkels, den der Draht bildete. Er schwankte und
antwortete auf den Druck der Füße mit mehrfachem, über die ganze Linie laufendem
elastischen Wellenschlag; ich ging wie über einen Heuberg. Allmählich, ich näherte
mich der Mitte des Weges, schlug der Draht immer stärker und tiefer aus. Bei
dem fast völligen Schwund des physischen Bewußtseins und dem Mechanischen der
Bewegungen übte dies einen äußerst merkwürdigen Eindruck auf mich aus. Es schien
mir so, als gäbe es zwischen mir und dem Draht keine Verbindung außer der täuschenden
Ähnlichkeit gegenseitiger Abhängigkeit, als ahme das Seil auf geheimnisvolle
Weise meine Bewegungen nach und folge diesen, und als könnte ich, wenn ich es
wollte, mit Erfolg auch über ihm schreiten und den Draht zwingen, genauso zu
vibrieren und nach unten durchzuhängen, als würde ich auf ihm entlanglaufen.
- Alexander
Grin, Das Seil.
In: Phantastische Zeiten. Hg. Franz Rottensteiner. Frankfurt am Main 1986 (zuerst
1922. Phantastische
Bibliothek 185)
Seiltänzer (7)
Seiltänzer (8) Die Seiltänzer schlafen gern am
äußersten Bettrand und dann träumen sie, daß sie über ein Drahtseil von Amerika
nach Europa, von Europa nach Amerika laufen. -
(cirkus)
Seiltänzer (9)
Seiltänzer (10) Marino
schätzt Seiltänzer-Metaphern. Er vergleicht den Seiltänzer mit einem
Dädalus, der sich von Turm zu Turm im irren Raum schwingt. (‹Qual Dedalo
nove! da torre a torre›,) Man begreift: Marino empfand sich selbst als
lyrischen Seiltänzer, Er liebte Tanz und Literatur. Beides war für ihn
eine ‹geometna meravigliosa.› - Gustav René
Hocke, Manierismus in der Literatur. Sprach-Alchimie und esoterische Kombinationskunst.
Reinbek bei Hamburg 1969 (rde 82/83, zuerst 1959)
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