eil  So wie sich die Betschwestern nach der Messe der Sünde der Naschhaftigkeit mit den Liebesgrübchen aus der Bäckerei Croichant ergaben (damals, in jener Zeit, von der wir reden, kurz nach dem Krieg, war es noch der alte Vater Croichant), so füllte sich der »Kohlenhändler von Sainte-Gudule« symmetrisch und simultan mit Männern, die kamen, um ihr Glas Rotwein zu trinken und dazu eine Wurst, eine Schweinesülze, eine Rillette oder ein Stück Speck zu essen. Es gab eine Theke für den Wirt, Arsène, und hinten einen Gastraum mit einigen Tischen, und zwischen beiden eine Art dickes, gespanntes Seil, an das man die Besoffensten hängte, um sie auszunüchtern; tatsächlich waren es zwei Seile, und man lehnte sie dagegen; sie schnarchten mit hängenden Armen; dann kamen die Mütter, Frauen, Töchter, Dienstmägde oder Mätressen (häufig spielten sie mehrere Rollen gleichzeitig), um sie abzuholen und schleppten sie nach Hause. Im hinteren Gastraum und am Seil bediente Yvonne zwanzig Jahre lang; sie war Arsènes Mätresse, sie war beherzt und stark, sie hielt die Betrunkenen in Schach. Wenn Arsène den Wein ausschenkte, wenn er die Kohlen austrug, bekam er Durst; er trank. Und zwar so viel, daß er eines Tages im Keller weiße Mäuse sah, die ihn nicht mehr verließen.  - Jacques Roubaud, Die schöne Hortense. München 1992 (dtv 11602, zuerst 1985)

Seil (2)  Die Liebe - obschon hoffnungslos, so doch voller Zärtlichkeit - die Du Deinem Seil entgegenbringen mußt, wird ebensoviel Kraft haben wie das Eisenseil, das Dich trägt. Ich kenne die Dinge, ihre Tücke, ihre Grausamkeit und auch ihre Dankbarkeit. Das Seil war tot - oder wenn Du willst stumm, blind; - Du erscheinst: es wird lebendig, es spricht.

Du wirst es lieben mit einer beinahe fleischlichen Liebe. Jeden Morgen, bevor Du Dein Training beginnst, geh, wenn es aufgespannt ist und zittert, und gib ihm einen Kuß. Bitte es, Dich zu tragen und Dir Eleganz und fiebernde Erregung zu gewähren. Am Ende jeder Vorstellung grüße es und danke ihm. Und nachts, während es zusammengerollt in seinem Kasten ruht, besuche und liebkose es. Und lege sanft Deine Wange an seine.

Manche Tierbändiger wenden Gewalt an. Du kannst versuchen, Dein Seil zu bändigen. Aber nimm Dich in acht. Das Eisenseil hebt Blut wie der Panther und wie das Volk, von dem man es sagt. Versuche also eher, es zu zähmen.

Bürde Deinem Eisenseil den schönsten Namen auf, nicht in Deinem, sondern in seinem Sinn. Deine Kapriolen, Deine Sprünge, Deine Tänze - in der Akrobatensprache Deine: schnellen Kreuzsprünge, Bogensprünge, Todessprünge, Dein Radschlagen und dergleichen, sie dürfen Dir nicht gelingen, damit Du im Ruhm erstrahlst, sondern damit ein Stahlseil, das tot und stumm war, endlich singt. So wie es Dir dankbar sein wird, wenn Deine Übungen vollkommen sind, nicht um Deines, sondern um seines Ruhmes willen. Das überraschte Publikum soll ihm begeistert zurufen:

Was für ein herrliches Seil!
Wie es seinen Tänzer trägt
und wie er es liebt!

Das Seil seinerseits wird Dich zum wunderbarsten aller Tänzer machen.

Auf dem Erdboden wirst Du stolpern.   - Jean Genet, DerSeiltänzer. In: Salto. 99 Luftsprünge, Purzelbäume und andere Kunststücke. Berlin 2001 (Wagenbach, Salto 100, Hg. Susanne Schüssler, Maren Arzt)

 

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