Sehen, plötzliches  «Rebecca», sagte ich langsam und bedächtig, «wenn ich wirklich wüßte, wozu ich fähig bin, würde ich nicht hier sitzen und mit dir plaudern. Ich habe manchmal das Gefühl, als würde ich platzen. Tatsächlich ist mir das Elend der Welt völlig gleichgültig. Ich nehme es als gegeben hin. Was ich möchte, ist, mich aufschließen. Ich will wissen, was in mir ist. Ich will, daß jedermann sich aufschließt. Ich bin wie ein Schwachsinniger mit einem Büchsenöffner in der Hand, der sich fragt, wo er anfangen soll, die Erde zu öffnen. Ich weiß, daß unter all dem Dreck alles wundervoll ist. Ich bin dessen sicher. Ich weiß es, weil ich mich selbst meistens so wundervoll fühle. Und wenn ich mich so fühle, erscheinen mir alle wundervoll... alle und alles ... sogar Kieselsteine und Pappestücke ... ein im Rinnstein liegendes Streichholz ... alles ... ein Ziegenbart, wenn du willst. Darüber möchte ich schreiben -aber ich weiß nicht wie ... ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Vielleicht ist es zu persönlich. Mag sein, es klänge wie reiner Blödsinn ... Verstehst du, mir scheint es, als seien die Künstler, die Wissenschaftler, die Philosophen zerstreuende Linsen. Es ist alles eine große Vorbereitung auf etwas, das nie eintritt. Eines Tages wird die Linse vollkommen sein, und wir werden alle deutlich sehen, was für eine taumelnd wundervolle, schöne Welt das ist. Aber in der Zwischenzeit gehen wir sozusagen ohne Brille umher. Wir stolpern umher wie kurzsichtige, blinzelnde Idioten. Wir sehen nicht, was vor unserer Nase liegt, weil wir so erpicht darauf sind, die Sterne oder das dahinter liegt zu sehen. Wir versuchen mit dem Verstand zu sehen, aber der Verstand sieht nur, was er sehen soll. Der Verstand kann nicht weit die Augen öffnen und einfach um des Sehvergnügens willen schauen. Hast du noch nie bemerkt, daß du, wenn du zu schauen aufhörst, wenn du nicht zu sehen versuchst, daß du dann plötzlich siehst? Was ist es, was du siehst? Was ist es, was sieht? Warum ist in solchen Augenblicken alles so anders - so wundervoll anders? Und was entspricht der Wirklichkeit mehr, diese Art von Vision oder das andere Sehen? Du verstehst, was ich meine ... Wenn du eine Inspiration hast, nimmt dein Verstand Urlaub. Du übergibst ihn jemand anderem, einer unsichtbaren, unbekannten Kraft, die Besitz von dir ergreift, wie wir so zutreffend sagen. Was zum Teufel bedeutet das - wenn es überhaupt einen Sinn haben soll? Was geschieht, wenn die Denkmaschinerie sich verlangsamt oder zum Stillstand kommt? Als was oder wie immer du es anzusehen beschließt, dieser andere Modus operandi ist von einer anderen Ordnung. Die Maschine läuft reibungslos, aber ihr Ziel und Zweck scheinen rein willkürlich. Es ergibt sich eine andere Art von Sinn ... ein großartiger Sinn, wenn man es ohne zu fragen hinnimmt, und Unsinn - oder nicht Unsinn, sondern Verrücktheit -, wenn man versucht, es mit der anderen Maschinerie zu untersuchen ... Du lieber Himmel, ich glaube, ich schweife ab.» - Henry Miller, Sexus. Reinbek bei Hamburg 1980 (zuerst 1947)

Sehen Ploetzlichkeit


Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 

Unterbegriffe

VB
Epiphanie


Synonyme