Seele, bescheidene   Einer unter den Preußischen Besatzern, ein großer alter Kerl mit einem langen Bart und einer Brille, hielt ihm die Mündung seines Revolvers unter die Nase und verlangte unter Androhung des Todes von ihm, ihnen im Wald als Führer zu dienen.

Dieses Benehmen gefiel ihm gar nicht, aber er war nicht der Stärkere, und außerdem gab man ihm regelmäßig Fleisch zu essen, echtes Fleisch vom Metzger wie in den Bürgerhäusern in Pithiviers, und das entschädigte reichlich für alles.

Dieses Schlaraffenleben dauerte einige Tage, in denen Scheißfliege, der die schmalsten Pfade kannte, für die französische Armee verhängnisvoll gewesen sein muss und ihre Operationen oder Pläne auf scheußliche Art und Weise durchkreuzte.

Am Ende des sechsten Tages erblickte ihn ein Pariser Freischärler, den man gerade füsilieren wollte, aus nächster Nähe und schrie ihn an:

»Du bist es also, Du Knilch, der die französischen Soldaten verkauft! Hebe nur einen auf mein Blut, gleich jetzt, wenn Deine guten Freunde mich ermordet haben. Hier, Judas, Schweinehund, Dreckskerl!« ... und er spuckte ihm ins Gesicht.

Scheißfliege wischte sich die Spucke ab und antwortete nicht. Aber in der folgenden Nacht sägte er die Kehle des Bärtigen auf, bemächtigte sich seines Revolvers, beraubte ihn seiner Uhr und seines Geldes und entwich lautlos wie ein Reptil.

Es ist schwierig, die Mühen dieser bescheidenen Seele zu beschreiben. Er war die Frühgeburt einer Dirne der gemeinsten Sorte, die kurze Zeit später in ein Massengrab geworfen worden war, und wuchs wie durch ein Wunder unter den wenig flaumigen Flügeln der städtischen Wohlfahrt von Pithiviers auf.

Er war rachitisch und blass wie die bloße Skizze einer Karikatur, seine Intelligenz entsprach den Mängeln seines bedauernswerten Körpers. Sein Bild glich jenen welligen und schlecht belegten Spiegeln, die alle Bilder verformen. Man musste darauf verzichten, ihm das beizubringen, was es zu lernen galt. Einer seiner Wohltäter hatte glücklicherweise ausreichend Begabung, um zu erkennen, dass der kleinste Tropfen Wissenschaft ein so leichtes Boot zum Kentern bringen würde, das schon jetzt mit einem halben Dutzend möglicher Meinungen, die für das planmäßige Funktionieren der sozialen Ordnung ausreichten, überladen war.

Daher drillte man ihn zum richtigen Zeitpunkt auf die groben Verrichtungen der untersten Dienerschaft, und im Alter von zehn Jahren verdiente er sich das, was man für sein Leben hielt, indem er den Stallknechten einer namhaften Herberge aushalf, die am Ufer des Oeuf lag und bei der alle fahrenden Händler der Beauce und des Gatinais Halt machten.

Zu allen Zeiten und an allen Orten waren Beobachter verblüfft von der seltsamen Anziehung, die hässliche Menschen auf edle Tiere ausüben. Die Pferde liebten den Gnom, über den sich alle Lausbuben der Stadt lustig machten und der nie andere Freunde hatte als diese bemitleidenswerten Tiere.

Er verwandte viel Sorgfalt auf sie, gab ihnen, manchmal sogar mit einer gewissen wilden Poesie, sehr zarte Namen, die meist dem Pflanzenreich entliehen waren, erkannte sie auf der Straße schon von weitem, wenn sie aus Orléans oder Montargis ankamen, und die Pferde eilten ihm, obgleich erschöpft von der Arbeit, wiehernd entgegen.  - Léon Bloy, Blutschweiß. Berlin 2011 (zuerst 1893)

Seele

Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 

Unterbegriffe

VB

 

Synonyme