chwäche
Dies sind nicht alle Überlegungen, zu denen die Beobachtung
der Menschen führt, wenn sie vom Zorn
gepackt sind. Man lernt ihn noch von mehr Seiten kennen: in ihm
wohnt kein Adel und Mut, keine Erhabenheit oder Seelengröße.
Gewiß hält die Masse seine Leidenschaft für Rührigkeit, seine
Drohungen für Mut und seinen Starrsinn für Stärke. Wenn manche
in Grausamkeit Heldensinn, in Unerbittlichkeit Charakterstärke
und schließlich in Verdrießlichkeit Haß
gegen das Laster sehen wollen, so geben sie sich gewiß einer
Täuschung hin. Denn die Handlungen, Bewegungen, ja das Betragen
des Zornigen verrät doch nichts anderes als kleinlichen, schwächlichen
Sinn, nicht nur wenn er seine Kinder mißhandelt, seiner Frau
unwirsch begegnet, an Hunden, Pferden und Eseln seine Rachsucht
befriedigen zu müssen glaubt, wie einst der Faustkämpfer Ktesiphon
einem ausschlagenden Maulesel Gleiches mit Gleichem vergalt.
Selbst bei den blutigen Taten des Tyrannen spürt man in der Grausamkeit
die Seelenschwäche und in dem Handeln eine Art Leiden, ähnlich
dem Biß der Schlange, die an ihren Übeltätern ihre Wut ausläßt,
wenn sie vor Schmerzen wild geworden ist. Wie durch einen starken
Schlag auf weiches Fleisch eine Schwellung entsteht, so ruft
gerade in weichen Seelen das Verlangen, anderen wehzutun, umso
größeren Zorn hervor, je wehrloser sich die Seele
fühlt.
Das ist denn auch der Grund, warum Frauen leichter in Zorn
geraten als Männer, Kranke leichter als Gesunde, Greise leichter
als junge Menschen und Unglückliche leichter als Glückliche.
Der Geizige läßt seinen Zorn am ersten an seinem Verwalter aus,
der Feinschmecker an seinem Koch, der Eifersüchtige an seiner
Frau und der Ehrgeizige an seinem Verleumder. Am empfindlichsten
sind aber Männer, die sich im staatlichen Leben Rang und Anhängerschaft
erwerben wollen, »ein Seelenschmerz, der sich nicht verbergen
läßt«, wie Pindar sagt. So ist es denn vor allem Leid
und Schmerz einer schwachen Seele, aus der sich der Zorn erhebt.
Er gleicht nicht, wie man wohl gesagt hat, den Sehnen und Muskeln
der Seele, eher ihren Zuckungen und Spannungen, wenn sie von
einem Übermaß an Abwehrwillen erfüllt ist. - (
plu
)
Schwäche (2) Es war in den trüben Wintermonaten mit
ihren Schneestürmen und schwerem Seegang. Mit dem Bruch der Schraubenwelle schien
das Leben plötzlich aus dem großen Leib des Schiffes gewichen zu sein, und seine
eigenwillige hochmütige Existenz verwandelte sich mit einem Schlage in das untätige
Dasein eines Stückes Treibholz. Ein Schiff, das an seiner eigenen Schwäche erkrankt,
wirkt bei weitem nicht so ergreifend, wie das im Kampf mit den Elementen unterliegende
Schiff, weil dieser Kampf ja das eigentliche Drama seines Lebens ist. Kein Seemann
wird einem havarierten Schiff ohne Mitgefühl begegnen, aber ein Segelschiff,
das seine stattlichen Riggen verloren hat, wirkt auf ihn wie der Anblick eines
geschlagenen, doch unbezähmbaren Kriegers. Seine stehengebliebenen Maststümpfe
recken sich wie verstümmelte Glieder in herausforderndem Trotz gegen den finster
drohenden Sturmhimmel. Kühnheit verraten auch seine nach dem Bug hin aufstrebenden
Linien, und sobald am hastig aufgerichteten Notmast wieder ein Fetzen Segeltuch
steht, der den Kopf des Schiffes an den Wind bringt, bietet es auch schon wieder
mit ungebrochenem Mut der anstürmenden See die Stirn. - (
con
)
Schwäche (3) Unrecht durch Gewalt ist für den Ausüber
nicht so schimpflich, wie Unrecht durch List; weil jenes von physischer Kraft
zeugt, welche, unter allen Umständen, dem Menschengeschlechte imponirt; dieses
hingegen, durch Gebrauch des Umwegs, Schwäche verräth, und ihn also als physisches
und moralisches Wesen zugleich herabsetzt; zudem, weil Lug und Betrug nur dadurch
gelingen kann, daß der sie ausübt zu gleicher Zeit selbst Abscheu und Verachtung
dagegen äußern muß, um Zutrauen zu gewinnen, und sein Sieg darauf beruht, daß
man ihm die Redlichkeit zutraut, die er nicht hat. - Der tiefe Abscheu, den
Arglist, Treulosigkeit und Verrath überall erregen, beruht darauf, daß Treue
und Redlichkeit das Band sind, welches den in die Vielheit der Individuen zersplitterten
Willen doch von außen wieder zur Einheit verbindet und dadurch den Folgen des
aus jener Zersplitterung hervorgegangenen Egoismus Schranken setzt. Treulosigkeit
und Verrath zerreißen dieses letzte, äußere Band, und geben dadurch den Folgen
des Egoismus gränzenlosen Spielraum. - (
wv
)
Schwäche (4) Es fällt ihm schwer, seine Sorgen
zu verbergen und jene kühle Verschlossenheit
zu bewahren, die er einst allen Schwierigkeiten entgegenzusetzen verstand. Er
beginnt, zu oft die Wahrheit zu sagen - aus Schwäche. »Es war«, sagt ein Augenzeuge,
»als ob er die Fähigkeit zu heucheln eingebüßt hätte.«
- Friedrich Sieburg,
Napoleon. Die Hundert Tage. München u. Zürich 1966 (zuerst 1956)