chuß  »He«, ruft Maigret ihm zu und greift dabei in seine Tasche, in der sein Revolver steckt.

Er hat nicht die Zeit, ihn zu benutzen. Er bekommt plötzlich einen Schlag gegen die Schulter, noch ehe er den Knall des Schusses hört.

Das hat nur eine Zehntelsekunde gedauert, und schon ist der Mann aufgestanden, rennt durch ein Dickicht, überquert die Landstraße und verschwindet im Dunkel.

Maigret hat einen Fluch ausgestoßen. Tränen steigen ihm in die Augen, nicht weil er Schmerzen hat, sondern weil er verblüfft und wütend ist. Das alles ist so schnell gegangen, und er befindet sich in einer so kläglichen Lage.

Er läßt seinen Revolver fallen, bückt sich, um ihn wieder aufzuheben, und schneidet ein Gesicht, weil seine Schulter weh tut.

Genauer gesagt, es ist etwas anderes: das Gefühl, daß Blut herausströmt, daß bei jedem Schlag seines Herzens die warme Flüssigkeit aus der verletzten Ader spritzt.

 Er wagt nicht, zu laufen. Er wagt nicht, sich zu rühren. Er hebt nicht einmal seine Waffe auf.

Seine Schläfen sind feucht. Seine Kehle ist wie zugeschnürt. Und seine Hand, die nach der Schulter tastet, klebt, wie er es erwartet hat, von Blut. Er preßt die Wunde zusammen, sucht nach der Ader, um zu verhindern, daß noch mehr Blut herausfließt.

In seiner Benommenheit hat er das Gefühl, daß der Zug kaum einen Kilometer von ihm entfernt hält, lange, länge hält, während er selber angstvoll die Ohren spitzt.

Was nützt es ihm, daß der Zug hält? Das Verstummen des Ratterns der Räder erschreckt ihn wie eine Leere.

Endlich beginnt dort unten das Geräusch wieder. Etwas Rotes bewegt sich hinter den Bäumen am Himmel. Und dann ist alles wieder stumm und dunkel. Maigret hält seine Schulter mit der Unken Hand. Es ist die rechte. Er versucht, den rechten Arm zu bewegen. Es gelingt ihm, ihn ein wenig zu rieben, aber gleich darauf sinkt der Arm schwer wieder herunter.

In dem Wald hört man nichts. Man könnte glauben, der Mann sei nicht weitergeflüchtet, sondern halte sich im Gebüsch verborgen. Und wenn Maigret zu der Straße geht, wird er dann nicht von neuem schießen, um ihm endgültig den Garaus zu machen?

»Idiot! Idiot! Idiot!« brummt Maigret, der sich hundeelend fühlt.

Warum ist er aus dem Zug gesprungen? In der Morgendämmerung wird sein Freund Leduc ihn am Bahnhof von Villefranche erwarten, und das Mädchen wird einen Lachs zubereitet haben.

Maigret geht mit schwankenden Schritten. Nach drei Metern bleibt er stehen, geht wieder weiter, bleibt von neuem stehen.

Das einzige Helle im Dunkel ist die Straße, eine weiße, wie im Hochsommer staubige Straße, aber das Blut fließt immer noch, wenn auch nicht mehr so stark. Maigrets Hand verhindert, daß es allzu stark herausquillt.

Er ist kaum je in seinem Leben verletzt worden. Ihm ist so unheimlich zumute, als läge er auf einem Operationstisch. Ein heftiger Schmerz wäre ihm lieber als dies langsame Fließen seines Blutes.  - Georges Simenon, Maigret und der Verrückte. München 1971 (Heyne Simenon-Kriminalromane 67, zuerst 1932)

Schuß (2) Clarence war wohl zumute, wohl und ganz wach und kein bißchen müde. Er hatte gesiegt - gesiegt über diesen kleinen Dreckskerl, und er wußte, damit sollte er es bewenden lassen. Es war blanker Irrsinn, jetzt auf die Straße zu gehen; dann wäre es leicht für Manzoni, irgendwas vom Zaun zu brechen, einen Streit zu fingieren, damit er seine Waffe gebrauchen konnte. »Ich bin den ganzen Tag rumgelaufen«, sagte Clarence. »Nein danke, Pete, ich -«

Der Schuß fiel, und Clarence fühlte den leichten Stoß im Magen. Er starrte Manzoni an - seltsam, Manzoni sah genauso erschrocken aus wie vorhin, nur standen jetzt auch noch Erwartung und furchtsame Spannung in dem groben Gesicht. Wußte er nicht, ob er noch einen Schuß abgeben sollte? Nein, Manzoni wartete, daß Clarence umfiel. Und Clarence schwankte.

Dann lag er am Boden. Manzoni ging eilig hinaus, doch Clarences Gedanken jagten noch schneller. Er dachte an das, was Manzoni aussagen würde: Clarence sei tätlich geworden, und aus Notwehr habe er selber dann - aber vielleicht brauchte er gar keine Aussage zu machen. Wie man es auch betrachtete, Manzoni konnte nichts passieren. - Patricia Highsmith, Lösegeld für einen Hund. Zürich 1976 (zuerst 1972)

Schuß (3) Einen Schuß Morphium spürt man zuerst hinten in den Beinen, dann im Nacken, eine Welle der Entspannung geht durch den Körper, die Muskeln lockern sich von den Knochen, es ist ein Gefühl, als würde man in warmem Salzwasser treiben und sich langsam darin auflösen. Das Gefühl drang mir bis in die letzten Fasern, und jetzt packte mich die Angst. Ich hatte den Eindruck, als sei am Rand meines Gesichtsfeldes eine entsetzliche Erscheinung aufgetaucht, die sich seitlich wegbewegte, sobald ich den Kopf drehte, so daß ich sie nie richtig zu sehen bekam. Mir wurde übel, ich legte mich lang und machte die Augen zu. Eine Folge von Bildern zog vorbei, als würde ich einen Film sehen: eine riesige neonbeleuchtete Bar, die sich immer weiter ausdehnte und schließlich ganze Straßenzüge enthielt, Verkehrsstockungen, Straßenbauarbeiten; eine Kellnerin mit einem Totenschädel auf einem Tablett. - (jun)

 

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