chriftsteller,
lernender
Ein guter Schriftsteller sollte, soweit wie möglich, alles wissen.
Natürlich kann er das nicht. Ein Schriftsteller, der wahrhaft bedeutend ist,
scheint mit Wissen geboren zu sein. Aber in Wirklichkeit ist er es nicht; er
ist nur mit der Fähigkeit geboren, im Verhältnis zu dem Vergehen der Zeit schneller
zu lernen als andere Menschen und ohne bewußte Anstrengung und mit der besonderen
Begabung, das, was bereits als Wissen vorliegt, anzunehmen oder zurückzuweisen.
Es gibt einige Dinge, die nicht schnell erlernt werden können, und man muß ihren
Erwerb mit Zeit, die alles ist, was wir besitzen, schwer bezahlen. Es sind die
allereinfachsten Dinge, und weil es eines Menschen ganzes Leben bedarf, um sie
zu lernen, ist das wenige Neue, das jeder Mensch dem Leben abgewinnt, sehr kostbar
und das einzige Erbe, das er hinterlassen kann. Jeder Roman, der aufrichtig
geschrieben ist, trägt zu dem Gesamtwissen bei, das dem nächsten Schriftsteller,
der kommt, zur Verfügung steht, doch der nächste Schriftsteller muß immer einen
gewissen nominellen Prozentsatz an Erfahrung bezahlen, um das, was ihm als sein
Geburtsrecht zugänglich ist, verstehen und sich einverleiben zu können, um von
dort aus seinerseits wiederum seinen Ausgang zu nehmen. Wenn ein Prosaschriftsteller
genug über das weiß, worüber er schreibt, kann er Dinge auslassen, die er weiß,
und der Leser wird, wenn der Schriftsteller aufrichtig genug schreibt, ein so
starkes Gefühl dieser Dinge haben, als ob der Schriftsteller sie erwähnt hätte.
Die Würde der Bewegung eines Eisbergs ist darauf zurückzuführen, daß nur ein
Achtel von ihm über Wasser ist. Ein Schriftsteller, der Dinge wegläßt, weil
er sie nicht weiß, läßt nichts als leere Stellen in dem, was er schreibt. Ein
Schriftsteller, der den Ernst des Schreibens so wenig zu würdigen weiß, daß
er darauf aus ist, Menschen zu überzeugen, daß er eine Allgemeinbildung besitzt,
kultiviert oder wohlerzogen ist, ist einfach ein Geck. Auch ist dies nicht zu
vergessen: ein ernsthafter Schriftsteller ist nicht zu verwechseln mit einem
salbungsvollen Schriftsteller. Ein ernsthafter Schriftsteller kann ein Falke,
ein Bussard, ja selbst ein Gimpel sein, aber ein salbungsvoller Schriftsteller
ist immer ein elender Kauz. - Ernest Hemingway, Tod am Nachmittag. Reinbek bei Hamburg 2003 (zuerst 1932)
|
||
|
|
|