chöngeist
Ich besuchte regelmäßig einen Mann, der in einer solchen Rumpelkammer und
in einem solchen Dreck lebte, dass die Vorstellung des Mülleimers
sicherlich einen Platz in seinem Unterbewussten einnahm. Er war ein Schöngeist,
ein klar denkender und gesetzter Theoretiker mit gepflegter Ausdrucksweise.
Die Wohnung hatte zwei winzige Zimmer, die Wände waren ganz mit Regalen bedeckt,
wahllos voll gestopft mit Büchern und Platten, einige Bretter hatten schon unter
dem Gewicht nachgegeben. Das eine Zimmer füllte zu drei Vierteln ein Bett aus,
dessen Laken und Überwurf ich nie anders sah als in einem zerknüllten Haufen.
Bevor wir uns hinlegten, mussten wir erst Bücher, Zeitungen und Papiere beiseite
schieben. Im zweiten Zimmer sah nicht nur der Schreibtisch so aus, als hätte
sich ein wütender Dieb an ihm gerächt, weil er nichts gefunden hatte, sondern
auch der Boden - ein Dickicht aus umgestürzten Bücher- und Katalogstapeln, Haufen
von geöffneten Umschlägen, zerknitterten Papieren und aufgeblätterten Seiten,
die vermutlich noch gebraucht wurden. Zusammen mit dem Staub wäre das aber noch
gar nichts gewesen; da dienten Gläser, in denen noch der braune, eingetrocknete
Rest eines Getränks lagerte, als Papierpressen, dort hatten Gläser runde, klebrige
Ränder in andere Papiere gedrückt, da steckte ein vergilbtes T-Shirt oder ein
hartes, getrocknetes Handtuch zwischen den Laken, dort musste ich auf der Suche
nach einem Stück Seife in der Spüle archäologische Ausgrabungen betreiben zwischen
Schichten von Tassen und Untertassen, an denen eine Kruste aus Krümeln haftete
wie Erde an einer frisch ausgegrabenen Tonscherbe. Es war herzerfrischend. In
diesem Loch verbrachte ich viele Nächte. - Catherine Millet, Das sexuelle Leben der
Catherine M. München 2001
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