chneidezahn   Hinter dem Schrank machte er eine Entdeckung. Unter den Staubflocken, die die Tapete bedeckten, bemerkte er ein Loch. Eine kleine Vertiefung etwa einen Meter dreißig über dem Fußboden, in deren Hintergrund er einen grauen Wattebüschel erkannte. Neugierig gemacht, holte er einen Bleistift, mit dessen Hilfe es ihm gelang, das Knäuel herauszuziehen. Es steckte noch etwas darin. Zwei oder drei Minuten stocherte er, ehe er den Gegenstand fassen konnte, der in seine linke halboffene Hand rollte: es war ein Zahn. Genauer gesagt, ein Schneidezahn.

Warum erfaßte ihn plötzlich eine so ungewöhnliche Erregung, als er sich des weitgeöffneten Mundes der auf dem Krankenbett liegenden Simone Choule erinnerte? Wieder sah er deutlich, daß der obere Schneidezahn fehlte und dadurch gleichsam eine Bresche im Wall des Gebisses gebildet wurde, durch die der Tod eindrang. Während er den Zahn mechanisch in der hohlen Hand rollte, versuchte er herauszufinden, warum ihn Simone Choule in ein Loch in der Wand gesteckt hatte. Ihm fiel dunkel die Kindersage ein, derzufolge ein verborgener Zahn ein Geschenk versprach. Hatte die frühere Wlieterin in diesem Punkt ihren Kleinmädchenglauben bewahrt? Oder hatte sie sich nur von einem Stück ihres Selbst nicht trennen wollen, was Trelkovsky eher als mancher andere verstehen konnte? War es eine Mikrobombe, vor der sie von Zeit zu Zeit Kraft suchte, vor der sie, wer weiß, vielleicht Blumen aufstellte? Trelkovsky dachte hierbei an die Geschichte eines Mannes, der bei einem Autounfall einen Arm verloren hatte und daraufhin den Willen bekundete, ihn auf dem Friedhof zu begraben. Die Behörden verweigerten es. Der Arm wurde verbrannt. Die Zeitung berichtete nicht, was dann geschah. Hatte man dem Opfer auch die Asche seines Arms verweigert? Und mit welchem Recht?

Einmal losgelöst, bildeten Zahn oder Arm offenbar keinen Bestandteil des Individuums mehr. So einfach war es jedoch auch nicht. Von welchem Augenblick an, fragte sich Trelkovsky, besteht das Individuum als solches nicht mehr? Mir wird ein Arm amputiert, gut. Ich sage: ich und mein Arm. Mir werden beide Arme amputiert. Ich sage: ich und meine beiden Arme. Mir werden beide Beine abgenommen. Ich sage: ich und meine Glieder. Der Magen, die Leber, die Nieren werden - angenommen, es sei möglich - entfernt. Ich sage: ich und meine Organe. Man haut mir den Kopf ab: was soll ich sagen? Ich und mein Körper oder ich und mein Kopf?

Mit welchem Recht maßt sich mein Kopf, der doch auch nur ein Glied ist, den Titel ›ich‹ an? Weil er das Gehirn enthält? Aber es gibt Larven, Würmer und was weiß ich, die kein Gehirn haben. Gibt es für diese Wesen also irgendwo Gehirne, die sagen: ich und meine Würmer?  - Roland Topor, Der Mieter. Zürich 1976 (detebe 20358, zuerst 1964)

Schneidezähne (2)

- Franz Sedlacek

Schneidezähne (3)

Schneidezähne (4)
 

Zahn

 

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