chmutz-
und Schundliteratur
Sie war groß, schlank gewachsen, hatte dickes strohblondes Haar, eine
rosige Haut, blaue etwas schiefgeschlitzte Augen und einen dik-ken aufgeworfenen
Mund, der mit großen schönen Zähnen geschmückt war; sie war immer sehr adrett
gekleidet und trug besonders zierliche Knopfstiefel. Da ich sehr neugierig war,
was sie wohl in den Pausen so eifrig lesen mochte, griff ich, da ich zu schüchtern
war, mit ihr eine Unterhaltung anzufangen, zu einer List, um ihr Interesse zu
erwecken. Ich ließ abends wie aus Zufall einen Karl-May-Band auf dem Hocker,
der vor ihrem Arbeitsplatz stand, liegen und tat am andern Morgen so, als ob
ich das Buch suchte. Richtig, sie meldete sich auch prompt, wir kamen ins Gespräch
und sie erklärte mir sogleich, daß auch sie eine große Verehrerin von Karl May
sei, aber fügte sie gleich hinzu, es gäbe noch schönere und spannendere Geschichten
wie die von Karl May: z. B., ob ich schon
»Lips-Tullian, der große Räuberhauptmann Schlesiens« (Bild nach (ave))
oder »Hans Rudolf Zimmermann, der kühnste Räuberhauptmann Sachsens«
gelesen hätte? Und nun unterhielten wir uns, da das Eis gebrochen war, mit kindischem
Ernst über sämtliche Räuber und Banditen Europas, mit Trauer und Mitleid gedachten
wir der kühnen Empörer wider Schurkentücke, feige Niedertracht und Herrenhochmut.
Ich teilte ihr meine aus allen möglichen alten Schwarten erworbenen historischen
Kenntnisse mit; sie hingegen klärte mich über die Vorgänge des Schändens und
Vergewaltigens auf, so gut sie's eben vermochte. Sie versuchte mir klar zu machen,
was es bedeute, wenn ein Mädchen ihre Ehre verliere und was darunter zu verstehen
sei. Aber ich muß offen gestehen, so sehr ich auch aufpaßte, ganz klug wurde
ich aus ihrem Gerede nicht, wahrscheinlich deswegen nicht, weil sie die eigentlichen
Vorgänge, vielleicht aus Scham oder weil sie's selber nicht genau wußte, immer
nur sehr undeutlich beschrieb. In meinem Gehirn entstanden natürlich durch ihre
ungenauen Schilderungen äußerst groteske Vorstellungen von diesen Vorgängen;
eine große Furcht befiel mich oft, wenn ich mir ausmalte, daß ich einmal in
die Zwangslage geraten könnte, eine Frau schänden zu müssen. -
Rudolf Schlichter, Das widerspenstige Fleisch. Berlin 1991 (zuerst 1932)
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