chmelzen Der
König und der Diktator, der Henker und der Lakai, sie alle würden ihren Kopf
verlieren. Ihre Gesichter würden ihnen an der Gurgel kleben und von dort weiter
hinab bis zu den Füßen rutschen, und Staatsmänner würden zerfließen, als seien
sie aus jenen Tränen gemacht, die sie ihren Völkern zu verheißen pflegten, und
aus jenen Träumen, die sie ihnen vormachten. Vielleicht würde der Star noch
singen, auch wenn seine Lippen sich längst verformt hätten, und Dornröschen
noch atmen, obwohl ihm die Brust weggeflossen ist und sich mit den Händen der
Dienerin verbindet, die am Vertropfen wäre. Alle Finger, die Urteile unterschrieben,
die sich an etwas klammerten und Federkiele hielten, sie alle würden zu Stummeln
werden und Adern bilden, die sich selber auflösen. Das Wachsfleisch des Kardinals
würde am Boden kriechen und zusammen mit dem des Baseballspielers die Treppe
suchen und keinen Ausgang finden, und man würde zwischen Richter, Henker und
Verurteilten nicht mehr unterscheiden können. Ob sie im Parlament oder auf dem
Bildschirm auftraten, ob sie im Kabinett, im Boudoir oder auf der Straße spielten,
sie alle würden in die Knie gehen, und die Knie würden ihnen weich werden. Und
einige würden brennen. Und menschlich würde es riechen, nach verbranntem Haar.
Und bei dem, was da ineinander floß, wäre nicht mehr auszumachen, ob die breiige
Masse einst ein Diadem oder einen Stetson trug, ob Helm oder Zylinder. Der Tapferkeitsorden
fände zum Pinsel, und die Halsschraube würde am Hirtenstab kleben - und übrig
bleiben wird ein riesiger unansehnlicher Klumpen.
- Hugo Loetscher,
Die Papiere des Immunen. Zürich 1986
Schmelzen (2) Er packte Purpulan beim Kragen seiner Jacke und schleppte ihn bis zum Rande der Böschung. Mit dem Fuß stieß er ihn. Purpulan kippte um und machte plumps, als er ins Wasser fiel.
Bossu lief herbei, um zu sehen, trotz der dicken Schweißtropfen, die ihm von der Stirn herab den Mund netzten.
Purpulan war es gelungen, sich an einem Eisenring festzuklammern, aber er begann mit einem leisen Knistern zu schmelzen, dem gleichen Geräusch, das die Pommes frites machen, die man ins kochende Öl wirft; aber er schmolz wie Zucker. Er schmolz sogar ziemlich schnell. Schon zogen sich die Stümpfe seiner Beine wie Bonbonmasse. Dann war es bald der Rumpf, der verschwand.
Chambernac, vorgebeugt, überwachte diese Auflösung.
Purpulan sah ihn mit starren Augen und geschlossenem Mund ausdruckslos an. Als nur noch der obere Teil des Körpers übrigblieb, ließ er los und ließ sich, sich verflüchtigendes Aas, vom Strom mitreißen. Schon zogen sich die Stümpfe seiner Arme wie Bonbonmasse. Dann war es bald der Kopf, der verschwand.
Chambernac ging am Fluß entlang, folgte dem Überrest.
Purpulan war jetzt völlig geschmolzen; von seiner irdischen Erscheinung blieben
nur noch die Haare, die Zähne und die Augen übrig, auf der Oberfläche des Wassers
verstreut. Die Haare waren darauf die ersten, die sich auflösten, dann die Zähne.
Die beiden Augäpfel schwammen noch einige Faden. -
(lim)
Schmelzen (3)
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