chloß Je
mehr sie sich dem Schloss näherten, desto eisiger wurde die Kälte. Mimoo schien
das gar nicht zu bemerken. Auf seinem Gesichtchen, das so bleich war wie der
Schnee, lag ein Ausdruck von Ruhe. Große Lampen beleuchteten die Brücke, die
über den Schlossgraben führte. Jemima, die Mimoos lange, lockige Haare für blond
gehalten hatte, sah nun, dass sie weiß und schütter waren wie die einer alten
Frau. Diffus wie Zigarettenrauch wehten sie um sein Gesicht. Im Licht der Lampen
sah sie dann auch seine Hände. Es waren die schrumpeligen Hände eines Affen,
mit Fingernägeln, die so abgekaut waren, dass davon nur noch kleine, kaum aus
dem weißen, vertrockneten Fleisch hervorschauende Stümpfe übrig waren. Sie fand
diese Hände äußerst abstoßend.
Durch ein hohes, breites Tor gelangten sie in den Schlosshof und betraten dann das Schloss selbst. Hier rührte sich nichts, und weit und breit war kein lebendiges Wesen zu sehen. Alles schien tot, und selbst die Möbel wirkten wie vertrocknete Mumien. Jemima berührte einen Stuhl, und entsetzt sah sie zu, wie er vor ihr zu Staub zerfiel. Sie blieb stehen, die Hände am Hals, um einen Schrei zu unterdrücken. Sie fürchtete, vor Entsetzen den Verstand zu verlieren. Mimoo sah sie interessiert an, und der Anflug eines Lächelns trat auf seine Lippen.
»Jetzt gehen wir in den Garten spielen«, sagte er. »Denk daran, dass du es mir versprochen hast.«
Der Garten lag inmitten des Schlosses; ein großer Rabe hämmerte dort mit dem Schnabel auf den Boden. Als Jemima nähertrat, entdeckte sie einen flachen Stein mit der Inschrift: »Unserem geliebten kleinen Mimoo, gestorben am 10. Juni 1900.«
Mit einem Wutschrei drehte sie sich nach dem Jungen um.
»Du Leiche! Du widerliche Leiche!«, schrie sie ihn
an. - (
wind
)
Schloß (2) Über eine Wendeltreppe
gingen sie hinauf. Einer der Buben fragte, wo hier der unterirdische Gang sei,
doch wußte der Graf nichts von einem solchen. Auf den Professor
wirkte der Anblick des Schlosses so nachhaltig, daß er seine Frau wissen ließ,
er bringe ihr, weil sie von derart edler Abkunft sei, von nun an das Frühstück
ans Bett. Die Dame schmunzelte, nickte und bewegte sich leichtfüßig auf krachenden
Bretterböden durch die alten Zimmer, die angefüllt waren mit Möbeln der Jahrhundertwende.
Im weiträumigen Badezimmer stand ein Ständer, auf dem
ein dicker Kakadu mit schwarzem Schnabel hockte, fraß, gellend schrie und die
Reste seines Futters auf die Fliesen schlenkerte, die bedeckt waren mit Vogelkot
und Körnerspelzen. - Hermann Lenz, Der Wanderer. Frankfurt am Main
1988 (zuerst 1986)
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