Schlachtplatte  Sie streckte den Arm aus, griff zu der Aktenmappe, legte sie sich auf den Schoß und öffnete sie ganz. Sorgfältig zählte sie die Fünfhundert- und Einhundert-Francs-Scheine, die sich darin befanden. Manchmal fiel ihr ein Schein auf den Boden. Dann beugte sie sich nach vorne, und ihre Brustwarzen strichen über das Geld auf ihrem Schoß/ wenn sie den heruntergefallenen Schein aufhob. Alles in allem enthielt die Aktenmappe eine Summe von fünfundzwanzig- oder dreißigtausend Francs. Die junge Frau verstaute die Scheine, verschloß die Mappe wieder und stellte sie vor der Wand auf den Boden.

Dann nahm sie die Glocke der Warmhalteplatte hoch, und die Schlachtplatte kam zum Vorschein. Die junge Frau fing an, sich genüßlich den Magen vollzuschlagen: mit gehacktem Kraut, Würsten und Speck. Ihre Kaubewegungen waren heftig, schnell und laut. Fette Brühe lief ihr an den Mundwinkeln herunter. Manchmal rutschte ein bißchen Kraut von der Gabel, manchmal hing es ihr in Fäden aus dem Mund, fiel dann herunter oder blieb an ihrer Unterlippe oder am Kinn kleben. Während die junge Frau vor sich hin kaute, waren ihre Zähne zu sehen, denn sie hatte die Lippen weit auseinandergezogen. Sie trank von dem Champagner. Schon bald hatte sie die erste Flasche geleert. Als sie die zweite köpfte, schnitt sie sich die fleischige Daumenkuppe an dem Drahtverschluß, und ein kleines bißchen scharlachrotes Blut perlte hervor. Sie gluckste vor sich hin, denn sie war schon ein wenig beschwipst, lutschte ihren Daumen ab und schluckte das Blut.

Sie aß und trank weiter vor sich hin und geriet immer mehr in eine Art Rage. Sie beugte sich nach vorn, kaute unentwegt weiter und öffnete die Aktenmappe, nahm bündelweise Scheine heraus, rieb damit über ihren schweißnassen Bauch, über ihre Brüste, unter ihren Achseln, zwischen ihren Beinen und hinter den Knien. Während sie leise vor sich hin lachte und immer weiter kaute, liefen ihr die Tränen die Wangen hinunter. Sie streckte den Kopf vor, um sich den Duft der warmen Schlachtplatte zuzufächeln. Dabei fuhr sie sich mit den Scheinen über die Lippen und die Zähne, dann hob sie das Champagnerglas und tauchte ihre Nasenspitze in den perlenden Champagner. Und so kam sie in dem Luxusabteil des Luxuszuges in den gleichzeitigen Genuß verschiedener Aromen: des luxuriösen Champagnerduftes, des schmutzigen Geruchs der schmutzigen Scheine und der schmutzigen Dünste des Sauerkrauts, das wie Pisse stank oder wie Sperma.

Als sie um acht Uhr in Bleville ankam, hatte sie jedoch ihre gewohnte Selbstbeherrschung vollständig wiedererlangt.   - Jean-Patrick Manchette, Herz aus Blei. Bergisch Gladbach 1993 (Bastei Lübbe Schwarze serie, zuerst 1977)

Schlachtplatte (2)  Durch die plötzliche Abkühlung hat die Erde richtig gedampft, daß dem Brenner wieder die Marmortafel von der früheren Wetteranstalt in den Sinn gekommen ist:

Gebilde gaukeln auf aus Wassergräben,
vielleicht Erinnerung an ein früheres Leben.

Oder ist ihm das erst eingefallen, wie er schon drinnen war. Weil wie seine Schuhe schon im Stehen gequietscht haben, hat er die Türschnalle himmtergedrückt, und natürlich große Verwunderung, die Tür nicht abgesperrt.

Der Brenner hinein, eigentlich hat er im Vorzimmer warten wollen, aber dann neugierig, hat er doch die nächste Tür auch noch aufgemacht, und ich glaube fast, da ist es ihm erst eingefallen. Die Zeile mit dem Dampf und mit dem früheren Leben. Schon sehr eindrucksvoll, muß ich ehrlich zugeben, wie die früher das Wetter beschrieben haben.

Obwohl, es ist im Grunde kein Wetterdampf gewesen, der im Wohnzimmer von der Mary Ogusake aufgestiegen ist. Sondern die über das Wohnzimmer verstreuten Leichenteile haben immer noch richtiggehend gedampft. Ich vermute, das war der Grund, daß dem Brenner auf einmal der alte Wetterbericht durch den Kopf gegeistert ist.

Und ein Kanal speit plötzlich feistes Blut
vom Schlachthaus in den stillen Fluß hinunter.

Kein Wunder, daß ihm ausgerechnet das wieder eingefallen ist, weil der Brenner hat sich jetzt übergeben müssen.

In Körben tragen Frauen Eingeweide, ist ihm durch den Kopf geschossen, während er seine Eingeweide entleert hat, direkt auf den Boden, aber vom ReinlichkeitsStandpunkt kein Problem, weil der ganze Boden war sowieso über und über voller, wie soll ich sagen: Eingeweide.

Das war die reinste Schlachtplatte aus zwei Personen. Aber bei Schlachtplatten kann man sich oft furchtbar täuschen. Weil im Gasthaus reicht die Schlachtplatte für eine Person meistens für zwei Personen, und die Schlachtplatte für zwei Personen reicht oft für vier Personen! Jetzt hat der Brenner erst bei näherem Hinsehen bemerkt, daß es sich nur um eine einzige Leiche handelt.

Natürlich kein Anblick für Götter, das gebe ich schon zu, oder höchstens für sehr böse Götter, die es ja auch geben soll. Weil erster Eindruck, als hätte ein außerirdisches Riesenküchenmädchen das winzige menschliche Küchenmädchen Mary für eine Suppeneinlage gehalten und entsprechend bearbeitet. Ein bißchen wie bei dem Seefahrer, der sich zu den Riesen verirrt hat, wo ich mich heute noch ein bißchen fürchte, wenn sie es im Kinderfernsehen wiederholen.

Aber Petting nicht Kinderfernsehen. Obwohl es von der Uhrzeit her gerade richtig für den Kindernachmittag gewesen wäre. Aber wenn der Brenner zur Abwechslung ein bißchen das Kinderprogramm hätte einschalten wollen, hätte er zuerst einmal den Fernseher abwischen müssen. Und wenn er sich zum gemütlichen Fernsehen aus der Küche ein Bier hätte holen wollen, dann hätte er zuerst die Hand des ehemaligen Küchenmädchens Dr. Ogusake von der Türschnalle entfernen müssen.

Weil in einem letzten Fluchtversuch muß die Philippinin noch versucht haben, bei der Küchentür hinauszukommen, und dem Brenner ist jetzt in seiner Aufregung vorgekommen, als würde die Hand des ehemaligen Küchenmädchens ein bißchen der Hand zuwinken, die der Sebastian Franz seinerzeit aus dem Tischfußballtisch gezogen hat.

Bier in dem Sinn hätte er jetzt sowieso keines trinken wollen. Sondern große Frage, wie er das Gegenteil verhindern soll. - Wolf Haas, Silentium! Reinbek bei Hamburg 2012

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