Schiff, verwahrlostes  Aus einer geringen Entfernung bot das Schiff, als es vor dem Hintergrund der bleifarbenen Dünung deutlich sichtbar wurde, mit den hier und da noch darum flatternden Nebelfetzen das Bild eines weißgetünchten Klosters auf einem dunklen Pyrenäenfelsen. Aber es war nicht nur eine der bloßen Phantasie entsprungene Ähnlichkeit, denn einen Augenblick lang fühlte Kapitän Delano sich zu der Annahme veranlaßt, nichts Geringeres als eine Schiffsladung von Mönchen vor sich zu sehen. In der nebligen Entfernung sah es tatsächlich so aus, als ob dichtgedrängt dunkle Kutten über die Reling spähten, während durch die offenen Stückpforten hin und wieder andere dunkle, sich bewegende Gestalten undeutlich sichtbar wurden, Dommikaner-brüdern gleich, die im Kreuzgang umherwandeln.

Während sie noch näher herankamen, änderte sich dieses Bild, und der wahre Charakter des Schiffes wurde erkennbar - ein spanischer Kauffahrer erster Klasse, der mit einer Ladung von Negersklaven neben anderer wertvoller Fracht von einem Kolonialhafen nach dem anderen unterwegs war. Ein sehr großes und zu seiner Zeit sehr schönes Schiff, wie man dergleichen in jenen Tagen mit Abständen auf dieser Route begegnen konnte. Manche waren ausgediente Acapulco-Schatzschiffe oder ehemalige Fregatten der spanischen Kriegsmarine, die wie überalterte italienische Paläste noch zu den Zeiten des Niedergangs ihrer Herrschaft Zeichen einstiger Pracht bewahrten.

Je näher das Walboot herankam, um so mehr wurde die Ursache des weiß getünchten Äußeren des Fremden als eine schlampige Vernachlässigung sichtbar, die sich über das ganze Schiff ausbreitete. Die Spieren, Taue und große Teile der Reling waren flockig, so lange schon hatten sie keine Bekanntschaft mehr mit Schrabber, Teer und Bürste gemacht. In Ezechiels Tal der verdorrten Gebeine schien sein Kiel gestreckt, seine Spanten gefügt und sein Stapellauf vonstatten gegangen zu sein.

Bei seiner gegenwärtigen Verwendung hatte das Schiff in seiner allgemeinen Form und Takelung offenbar keine wesentliche Änderung seit seinem ursprünglichen Zustand als Kriegsschiff und Modell Froissarts erfahren. Indes waren keine Kanonen zu sehen.

Die Marse waren groß und ringsherum früher mit einem achteckigen Netzwerk umgeben gewesen, das sich aber jetzt in einem trostlosen Zustand befand. Diese drei Marse hingen oben wie drei schadhafte Vogelnester, und in einem davon sah man auf einer Webeleine eine weiße Dummschwalbe, einen seltsamen Vogel, sitzen, der so heißt, weil er so schläfrig und nachtwandlerisch träge ist, daß man ihn auf See oft mit der Hand fangen kann. Verbraucht und modrig, glich das festungsartige Vorderkastell einem alten Turm, der vor langen Zeiten durch einen Sturmangriff genommen und dann dem Verfall überlassen wurde. Zum Heck hin erstreckten sich zwei hochgetürmte Seitengalerien, deren Balustraden hier und da von trockenem zunderartigem Seemoos bedeckt waren. Dorthin gelangte man von der nicht bewohnten Staatskajüte, deren Fensterklappen trotz der milden Witterung hermetisch verschlossen und kalfatert waren. Diese verödeten Balkone hingen über der See, als wäre diese der Canal Grande in Venedig. Aber das Hauptüberbleibsei vergangener Größe war das umfangreiche Oval der schildförmigen Heckverzierung mit dem überreichlich geschnitzten Wappen von Kastilien und Leon, umgeben von Gruppen mythologischer oder symbolischer Darstellungen, deren höchste und zentrale ein dunkler Satyr mit einer Maske war, der seinen Fuß auf den gebeugten Nacken einer sich windenden, gleichfalls maskierten Gestalt setzte.

Ob das Schiff eine Gallonsfigur oder nur einen unverzierten Schnabel besaß, war nicht ganz klar, da dieser Teil mit Segeltuch verhüllt war, entweder um ihn während einer Reparatur zu schützen oder aber um seinen Verfall schamhaft zu verbergen. Roh gemalt oder mit Kalk hingepinselt, standen auf der Vorderseite einer Art Vorbau unterhalb des Segeltuches wie ein Seemannsscherz die Worte Seguid vuestro jefe (Folgt eurem Führer), während auf dem beschmutzten Kopfbrett dicht dabei in stattlichen, einst vergoldeten Versalien der Name des Schiffes, SAN DOMINICK, angebracht war, jeder Buchstabe von rieselndem Kupfernagelrost streifig angefressen, und jedesmal, wenn sich der Schiffsrumpf einem Leichenwagen gleich zur Seite neigte, wehten dunkle Girlanden von Seegras wie Trauerflore schleimig über den Namen hin und her.  - Herman Melville, Benito Cereno. In: H. M., Redburn. Israel Potter. Sämtliche Erzählungen. München 1967 (zuerst 1849)

 

Schiff Verwahrlosung

 

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