cheißhaus Die
rückläufige Zahl der Lebendgeburten bei den Hereros war im ganzen südlichen
Afrika ein Thema von medizinischem Interesse gewesen. Die Weißen verfolgten
die Entwicklung mit ebensoviel Argwohn, wie der Ausbruch der Rinderpest auf
ihren Besitzungen hervorgerufen hätte. Wie beklemmend, sich mit ansehen zu müssen,
wie die Zahl der eigenen Untertanen von Jahr zu Jahr dahinschwand. Was ist schon
eine Kolonie ohne ihre dunklen Eingeborenen? Wo bleibt der Spaß, wenn sie einem
alle einfach wegsterben? Nur noch ein fetter Brocken Wüste, ohne Dienstmädchen,
ohne Arbeiter auf den Feldern, in den Bergwerken und am Bau - Moment da drüben,
Augenblick mal, ja, Karl Marx ist das, der gerissene alte Rassist, der
sich mit zusammengebissenen Zähnen und hochge-wolbten Augenbrauen davonstiehlt
und uns immer noch weismachen will, daß es um nichts als billige Arbeit ginge
und neue Überseemärkte ... Aber nein, geschnitten. Kolonien sind mehr, viel,
viel mehr. Kolonien sind die Scheißhäuser der europäischen Seele, wo ein richtiger
Kerl die Hosen runterlassen und relaxen kann, um den Geruch seiner eigenen Scheiße
zu genießen. Wo er über seine schlanke Beute herfallen kann und so laut brüllen,
wie er gerade Lust hat, und ihr Blut schlürfen voller unverstellter Freude.
Oder etwa nicht? Wo er sich suhlen und brunften und sich gehenlassen kann in
eine Sanftheit, eine aufnahmebereite Dunkelheit von Gliedern, von Haaren, wollig
wie das Haar seiner eigenen verbotenen Genitalien. Wo Schlafmohn, Cannabis und
Coca wachsen, üppig und grün und nicht in den Formen und Farben des Todes wie
Blätterpilz und Mutterkorn, die Pilzarten und Krankheiten, die in Europa heimisch
sind.
Das christliche Europa hat schon immer Tod bedeutet, Karl, Tod und Verdrängung.
Draußen, im Süden, in den Kolonien
kann man sich ausleben, kann sich dem Lebendigen hingeben, der Sinnlichkeit
in allen ihren Formen, ohne der Metropolis einen Schaden zuzufügen, ohne die
Kathedralen, die weißen Marmorstatuen, die edlen Gedanken zu besudeln ... Kein
Wort dringt je nach Europa zurück. Die Strecken des Schweigens sind groß genug
hier unten, um jedes denkbare Verhalten aufzusaugen, wie dreckig und wie tierisch
es auch sei. - Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel. Reinbek bei Hamburg 1981
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