Scheintote

die scheintoten

die scheintoten warten vor den kartellämtern,
sie warten, ohnmächtig, aus beiden lungen rauchend,
vor den eichämtern und vor den arbeitsämtern.
ihr bleicher, farbloser jubel weht
wie eine riesige zeitung im wind
gegen die vielen vergitterten schalter.

wie sie mit ihren genicken nicken! wie
sind sie tüchtig und aufgeräumt! wie flink
gehn ihnen von der hand lochkarten,
beichtzettel und schecks! in den aktentaschen
tragen sie ihr abrasiertes haar,
und in seinen zwei strümpfen
hat jeder von ihnen zehn zehen gespart.

und dabei essen sie noch und schneiden
mit ihren zehn scheintotenfingern fleisch
vom gebein toter tiere, und nachts,
um zu stillen, was zwischen ihren beinen
trauert und schreit, vermehren sie sich,
wenn die Schalter geschlossen sind,
und zeugen scheintote zeugen,

und melden sie morgens, rauchend
aus den ohnmächtigen mündern, an
bei den meldeämtern,
damit man sie nicht begräbt.

wer aber gibt ihnen küsse und äpfel?
wer weckt sie denn, wer gibt ihnen allerdings
immortellen, wer schaufelt von ihrer brust'
diese gebirge von qualm, wer wickelt sie
aus den zeitungen, salzt ihre essenden münder
mit mut, wer kämmt die asche aus ihrem haar,
wer wäscht die furcht aus ihren beiden farblosen augen,
wer schenkt, löst, zaubert, salbt und weckt
die scheintoten von den toten auf,
und wer spricht sie frei?

vor den bankschaltern warten, beschneit
von Zeitungen und von wahlscheinen, warten
unter dem himmel, der sich, wie ein vorstadtkino,
zuweilen erhellt und zuweilen verdunkelt,
wie zwischen hauptfilm und wochenschau,
zwischen walstatt und schauhaus,
vor den sterbeämtern warten, warten
die scheintoten auf ihre totenscheine,
rauchen aus tüchtigen farblosen jungen,
waten im trüben eigenen jubel,
und warten, verschieden, auf ihr verscheiden.

- Hans Magnus Enzensberger, Landessprache. Frankfurt am Main 1969 (es 304, zuerst 1960)

Scheintod Tote Irrtum

 

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