cheinheiligkeit Da die Gottesanbeterin gerade hungrig ist - sonst würde das faule Geschöpf noch länger warten, bis das Opfer ihm sozusagen in den Rachen läuft - schleicht sie näher heran, ganz vorsichtig, leise und langsam wie ein Tiger, ehe er sich zum Sprunge duckt. der Vorderleib reckt sich dabei in gespenstischer Weise höher und höher, und fast gewinnt man den Eindruck, als ob die Mantis einen lähmenden oder hypnotisierenden Einfluß auf ihr Opfer ausübe, wie man es ja auch von den Schlangen behauptet hat, denn das arme Ding rührt sich nicht, erscheint vor Schreck wie erstarrt und besitzt nicht mehr die Willenskraft zu eiliger Flucht oder verzweifelter Gegenwehr. Da - urplötzlich schleudern die scheinheilig zusammengefalteten Fangbeine
sich nach vorn, klappen in allen drei Teilen lang auseinander,
und ihre spitzen, krummen Endharpunen schlagen mörderisch in den Leib des Opfers,
das nun beim Zurückziehen der Fangbeine zwischen die starrenden Stacheln
der beiden Armteile wie in einem Schraubstock eingeklemmt wird und in dieser
fürchterlichen Umarmung rettungslos verloren ist.
Alsbald führt die Räuberin ihre Beute zum Munde, die Kauwerkzeuge beginnen ihre
Tätigkeit, und in verhältnismäßig kurzer Zeit ist das Kerbtier im Magen der
Heuschrecke verschwunden. Diese ist so gefräßig,
daß sie sich häufig zum Schaden der eigenen Gesundheit überfrißt, auch über
viel größere und recht wehrhafte Tiere mörderisch herfällt. Von den großen
tropischen Arten ist es nachgewiesen, daß sie sogar Eidechsen und kleine Vögel
überwältigen, und unsere Mantis religiosa greift wenigstens die kräftigen Wanderheuschrecken
und Kreuzspinnen an und bleibt ihnen gegenüber regelmäßig Sieger, obwohl sie
sich mit ihren starken Kiefern nach Möglichkeit verteidigen und die Heuschrecke
mit ihren sägeartigen Hinterbeinen der Gottesanbeterin den feisten und weichen
Bauch aufzuschlitzen versucht.
- Kurt
Floericke, Heuschrecken und Libellen.
1922
Scheinheiligkeit (2)
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