cheideweg Beispielsweise diese weibliche Statue; nun werde ich sie mir genau ansehen, und bei ihr, bei dieser steinernen Frau, soll mein Weg beginnen.
Ihr Kleid ist nichts weiter als ein Schleier, und wenn ihre Hände nicht zersplittert
waren, könnte ich erkennen, was sie da eigentlich festhält: vielleicht eine
Blumengirlande, vielleicht einen Bogen, wie man auf manchen Bildern kindlicher
Gewaltsamkeit sehen kann, oder vielleicht auch eine Leier. Ich blicke um mich
und versuche mir die Umrisse der Sträucher und Bäume einzuprägen. Die weibliche
Statue aber interessiert mich. Das Antlitz ist zum Himmel erhoben, die Haltung
läßt eine uralte Blindheit vermuten. Das graue Gestein nimmt der Nacktheit,
die man ahnt, jegliche Grazie; der Leib könnte eine beginnende Mutterschaft
andeuten oder vielleicht nur eine lachhafte Blähsucht. Wenn ich noch einmal
das Gesicht mustere, kann ich nur wiederholen, es ist vollkommen ausdruckslos
und trotzdem auf sanfte Weise gebieterisch; es ist etwas, das ich nicht überreden
könnte, anders als es selbst zu sein. Also begebe ich mich blindlings auf den
Weg. Blindlings? Das stimmt nicht; ich bemerke, daß ich instinktiv den Pfad
gewählt habe, der am unvollkommensten aussieht. Von diesem Pfad kann ich nichts
erhoffen. Ich gehe langsam, weil ich mir da ein Büschel seltsamer Blumen, dort
eine Grotte, anderswo einen Stein einprägen möchte. Aber bald komme ich zu einem
Scheideweg; ich entscheide mich für eine Strecke bis zu einem weiteren Scheideweg
und begegne erneut der weiblichen Statue. Verwundert sehe ich sie an; ist es
dieselbe? Soweit ich mich der anderen Gestalt entsinne, ist es sicherlich dieselbe;
und trotzdem kommt mir der Verdacht, es könnte sich um eine labyrinthische Arglist
handeln. Die Bäume sind ähnlich, sie gleichen denen sehr, die den Standort der
Statue zierten, aber vielleicht sind sie nicht mehr als sehr ähnlich. Wenn aber
das Labyrinth ähnliche Bäume gewählt hat, um mich irrezuführen, konnte es dann
nicht ebenso gleiche Bäume aufstellen? Allmählich begreife ich das geheime Gesetz
des Labyrinths. Sein Grundprinzip ist der Verdacht.
Alles ist ähnlich, nichts ist gleich. Und wenn ich auf die Statue stoße, von
der ich ausgegangen bin, wird auch sie nicht mehr als ähnlich sein; vielleicht
wird an ihrer Hand ein Splitter fehlen, den die Zeit, die Erwartung oder die
Liebe aufgezehrt hat. Nun mache ich mich wieder auf den Weg und weiß, was mir
begegnen wird: Scheidewege, die anderen Scheidewegen gleichen, spiegelbildliche
Nachahmungen von Seen und Bächen; Kieselsteine, die annähernd nach dem Vorbild
anderer Kieselsteine gemacht sind; unzählige Male werde ich der weiblichen Statue
begegnen, die mit trüben Augen gen Himmel blickt. So gehe ich gemächlich, aber
immer unachtsamer und immer vergnügter durch das Labyrinth; ich weiß nun, der
Geist dieses grausamen Baus ist eine geheime Ironie, ein bis ins Kleinste ausgeklügeltes
Vergnügen. Vielleicht gibt es einen Weg, der mich aus dem Labyrinth hinausführen
würde. - Giorgio Manganelli, Labyrinth. In: (
irrt
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