chattenreich Die Alte kam hüstelnd näher. Das Mädchen merkte, wie die alte Frau sie mit einem Stocke berührte und allerlei seltsame Zeichen auf ihren Körper schrieb.
Sogleich wurde es hell, und sie befand sich in einem Raume, der dicht gedrängt voller Frauen war. Nur an einer Stelle schien noch ein Plätzchen frei zu sein. Beschämt begab sie sich dorthin, denn sie wußte wohl, wie ungehörig es war, in Gegenwart so vieler Menschen dort zu stehen und an die Decke zu starren. Kurz darauf kamen auch die beiden Männer herein und setzten sich schweigend ans Feuer.
Als die Zeit zur Abendmahlzeit gekommen war, erhob sich ein solcher Gestank
im Raume, daß das Mädchen kaum zu atmen wagte. Von Zeit zu Zeit steckte sie
ihren Kopf unter die Felljacke und holte tief Luft, denn auf diese Weise war
der üble Geruch nicht ganz so betäubend. Der ganze Raum schien angefüllt mit
blassen, schattenhaften Gestalten, von denen viele erst sichtbar wurden, wenn
sie in unmittelbare Nähe gekommen waren. Das Mädchen beobachtete das Feuer und
wunderte sich, warum wohl die Holzstücke von allein immer näher an die Flammen
rückten. Schließlich stand sie auf und begann das Feuer zu schüren, daß die
Flammen hochschlugen und den ganzen Raum beleuchteten. Da aber hörte sie eine
Stimme schreien: »Du verbrennst mich! Du verbrennst mich!« Als sie sich umsah,
gewahrte sie einen alten Mann, der unsichtbar am Feuer gesessen hatte, um sich
den Rücken zu wärmen. Nun begriff sie, warum das Brennholz scheinbar selbständig
zum Feuer wanderte, denn bei genauem Hinsehen wurden die Schatten der tanzenden
Flammen zu Frauen, die sich Feuerbrände holten, um ihre eigenen Kochfeuer zu
entzünden. Erstaunt trat sie vor die Hütte, neugierig, wohin diese Schatten
wohl verschwänden. Da sah sie, daß sie in einer großen Siedlung war; überall
standen Hütten, in denen Schatten ihrer Arbeit nachgingen, kochten und brieten.
Über allem lag der gleiche Verwesungsgeruch von verdorbenem Fisch und faulendem
Fleisch. Die ganze gespenstische Siedlung war erfüllt von diesem Geruch des
Todes und der Verwesung. - Nordamerikanische
Indianermärchen. Hg. Gustav A. Konitzky. Düsseldorf, Köln 1982 (Diederichs,
Märchen der Weltliteratur)
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