Schallschatten   Denken wir einmal an diese äußerst ausgeklügelte und wissenschaftsverbrämte Lüge: daß sich der Schall im Weltraum nicht verbreitet. Und nehmen wir an, er tut es dennoch. Nehmen wir an, sie wollen nicht, daß wir von der Existenz eines Mediums wissen - etwas, das man früher «Äther» nannte-, welches in der Lage ist, den Schall aus dem Raum an jeden Ort der Erde weiterzuleiten. Der Tönende Äther. Seit Millionen von Jahren umgibt uns das Brüllen der Sonne, ein gigantisches Feuerofen-Brüllen über einhundertfünfzig Millionen Kilometer, das so vollkom­en gleichförmig ist, daß Generationen von Menschen in ihm geboren werden, leben, sterben konnten, ohne es jemals zu be­merken. Wie könnte irgendein Mensch davon wissen, solange es sich nicht verändert?

Allein dadurch, daß sich gelegentlich bei Nacht, irgendwo auf der sonnenabgewandten Hemisphäre, durch Wirbelströmungen im Erdschatten Interferenzen und auf diese Weise winzige Hohlräume von Nichtschall bilden. Beinahe täglich geschieht es an irgendeinem Ort auf der Nachthälfte des Globus, daß sich die Schallenergie von draußen für ein paar Sekunden löscht. Das Brüllen der Sonne verstummt. Für die kurze Dauer seines Lebens mag dieser kleine Raum von Schallschatten in ein paar hundert Metern Hohe über einer Wüste schweben oder zwischen zwei Etagen in einem menschenleeren Bürogebäude oder rund um den Tisch eines Individuums, das in einem billigen Restaurant sitzt, in dem Arbeiter verkehren und das jeden Morgen um drei Uhr von einer Reinigungskolonne ausgespritzt wird ... alles weiß gekachelt hier, Tische und Stühle am Boden festgeschraubt, die Lebensmittel hinter starren Glocken aus klarem Plastik ... und bald, von draußen, rrrnn! Klacken, Schleifen, das Quietschen eines Ventils, das aufgerädert wird ach ja, ach ja, Da Sind Die Männer Mit Den Schläuchen Die Zum Saubermachen Kommen -

In welchem Augenblick dich, ohne Warnung, der fiederig sich bildende Fleck von Schallschatten berührt hat, dich eingeschlos­sen hat in Sonnenschweigen von, na, sagen wir 2:36:18 bis 2:36:24 Zentrale Kriegszeit, es sei denn, das Restaurant befindet sich in Dungannon, Virginia; Bristol, Tennessee; AshevUle oder Franklin, North Carolina; Apalachicola, Florida, oder auch in Murdo Mackenzie, South Dakota, oder Phillipsburg, Kansas, oder Stockton, Plainville oder Ellis, Kansas - ja, klingt ganz nach 'ner Ehrentafel, nicht wahr, die irgendwo auf der Prärie verlesen wird, Schmiedeessenfarben in langen Schlieren auf dem Abend­himmel, rot und purpurn, eine langsam in Schatten sinkende Gruppe von Zivilisten, aufrecht und einander fast berührend wie Weizenhalme, und dieser alte Mann ganz in Schwarz oben am Mikrophon, der die Heimatstädte der Kriegstoten verliest, Dungannon ... Bristol ... Murdo Mackenzie ... sein weißes Haar vom formenden Wind, einem Herr-Deine-Alabasterstädte-Wind, zu einer Löwenmähne aufgeweht, sein leberfleckiges, großporiges Gesicht poliert von der Luft, gekörnt vom Licht, die ernsten Außenwinkel seiner Augen nach unten gezogen, während sich, eine um die andere, ausschwingend über den Amboß der Prärie, die Namen der Totenstädte abspulen und es nur noch Sekunden dauern kann, bis Bleicherode und Blicero genannt werden ...

Auf dem Holzweg, Sportsfreund! Hier nämlich handelt sich's um Städte, die auf der Grenze zwischen Zeitzonen liegen, sonst nichts. Ha, ha! Erwischt mit roten Ohren und den Händen in den Hosentaschen! Los, zeig uns allen, was du drin gemacht hast, oder verzieh dich, wir können deine Sorte hier nicht brau­chen, es gibt nichts Widerwärtigeres als einen sentimentalen Surrealisten.

«Also - die östlichen Städte, die wir genannt haben, liegen im Bereich der Östlichen Kriegszeit. Alle anderen Städte in der Übergangszone sind auf Zentral. Die westlichen Städte, die ich vorgelesen habe, gehören ebenfalls zu Zentral, während alle übrigen in dieser Übergangszone die Rocky-Mountain-Zeit haben...»

Was auch schon alles ist, was unser Sentimentaler Surrealist beim Sich-Verziehen noch zu hören kriegt. Ihm gleich. Er beschäftigt sich, oder «ist krankhaft besessen von», wenn ihr das lieber hört, mit jenem Augenblick des Sonnenschweigens zwischen den weißen Kacheln des Ketchup-Kellers. Er erinnert ihn an einen Ort (Kenosha, Wisconsin?), an dem er schon einmal gewesen ist, obwohl er sich an keinerlei Zusammenhänge mehr erinnern kann. Sie nannten ihn den «Kenosha Kid», doch das mag apokryph sein. Der einzige andere Raum, an den er sich inzwischen noch erinnern kann, ist ein zweifarbiges Zimmer, nichts als genau zwei Farben, für alle Lampen, Möbel, Vorhän­ge, Wände, die Decke, den Teppich, das Radio, selbst die Bucheinbände in den Regalen - alles war entweder (1) Dunkel-Billiges-Parfüm-Aquamarin oder (2) Sahneschokolade-und-FBI-Schuhe-Braun. Das kann in Kenosha gewesen sein, muß aber nicht. Wenn er sich anstrengt, fällt ihm binnen einer Minute ein, wie er zu diesem weißkacheligen Raum gekommen ist, eine halbe Stunde vor der Ausspritzzeit. Er sitzt vor einer halbvollen Kaffeetasse, viel Zucker und Milch, und unter dem Unterteller, geschützt vor seinen Fingern, liegen Krümel von einem Ananastörtchen. Früher oder später wird er den Unterteller zur Seite rücken müssen, um an die Krümel ranzukommen. Noch zögert er es hinaus. Aber es gibt kein Früher und kein Später, denn der Schallschatten stülpt sich über ihn. - Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel. Reinbek bei Hamburg 1981

Schatten Stille

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