chaf
» Sie hat mir erzählt, wie es geschehen war. Tante
Juliette saß auf dem Bettrand. Als sie ein Geräusch hörte, hatte sie mit
der Hand unter das Kopfkissen gegriffen, unter dem sie nachts immer ihren
Revolver versteckte, denn sie war sehr ängstlich.
›Du bist es‹, hatte sie gemurmelt, als sie Cécile erkannte. ›So schlecht
schläfst du? Gib zu, daß du mir nachspioniert hast.‹
›Tante, vorhin habe ich dich um ein wenig Geld für Gérard gebeten
oder vielmehr für seine Frau, die ein Kind bekommt.‹
›Geh wieder ins Bett.‹
›Du bist reich. Ich weiß es jetzt. Du mußt mich anhören. Gérard will
sich das Leben nehmen, wenn .. .‹
›Dein Taugenichts von Bruder
ist hier?‹
Meine Tante versuchte sich zu erheben, ohne ihren Revolver loszulassen.
Cécile hatte solche Angst, daß sie zwei Schritte vorwärts ging und den
einen Arm der Tante gepackt hat...
›Du mußt mir Geld geben .. .‹
Die Tante ist nach hinten gefallen. Sie wehrte sich trotzdem weiter,
versuchte, den Revolver wieder zu ergreifen, und da hat meine Schwester
ihr die Kehle zugedrückt.«
»Kaltblütig«, sagte Maigret unerwartet laut.
Ja, er hatte sich getäuscht, als er an eine heftige Szene gedacht hatte.
Cécile hatte ihre Kaltblütigkeit nicht verloren. Sie war ein geduldiges
Schaf. Jahre und Jahre hatte sie sich, ohne es überhaupt zu merken, gefügt
- so sehr war sie an die Demütigungen gewöhnt. Es hatte nur einer Kleinigkeit
bedurft, des Anblicks jenes Haufens Geldscheine.
- Georges Simenon, Maigret verliert eine Verehrerin. München 1970
(Heyne Simenon-Kriminalromane 101, zuerst 1942)
Schaf (2) Nach der unzutreffenden Meinung der
Alten bringen weiße Schafe Glück, schwarze Unglück; nach meiner Erfahrung jedoch
sind sowohl weiße als auch schwarze von guter Vorbedeutung; die weißen mehr,
die schwarzen weniger. Es gleichen die Schafe den Menschen, weil sie einem Hirten
folgen und sich zu Herden vereinigen, ferner, wegen ihres Namens, einer Beförderung
und dem Fortschritt zum Besseren. Am günstigsten ist es folglich, viele eigene
Schafe zu halten, fremde zu sehen und zu weiden, besonders für Leute, die die
große Menge beherrschen wollen, für Sophisten und Lehrer.
- (
art
)
Schaf (3) Schafe, anders gesehen Zur
Geschichte des Schafes: der Mensch findet heute das Schaf dumm. Aber
Gott hat es geliebt. Er hat die Menschen wiederholt mit Schafen
verglichen. Sollte Gott ganz Unrecht haben?
Zur Psychologie des Schafes: der sichtbar gestaltete Ausdruck hoher Zustände ist dem der Blödheit nicht unähnlich.
In der Heide bei Rom: Sie hatten die langen Gesichter und die
zierlichen Schädel von Märtyrern. Ihre schwarzen Socken und Kapuzen an
dem weißen Fell gemahnten an Todesbrüder und Fanatiker.
Ihre Lippen, wenn sie über dem kurzen, spärlichen Gras suchten,
zitterten nervös und stäubten den Ton einer erregten Metallsaite in die
Erde. Schlössen sich ihre Stimmen zum Chor, so klang es wie das klagende
Gebet der Prälaten im Dom. Sangen aber ihrer viele, so bildeten sie
einen Männer-, Frauen- und Kinderchor. In sanften Rundungen hoben und
senkten sie die Stimmen; wie ein Wanderzug im Dunkel war es, den in
jeder zweiten Sekunde das Licht traf, und es standen dann die Stimmen
der Kinder auf einem immer wiederkehrenden Hügel, während die Männer das
Tal durchschritten. Tausendmal schneller rollten Tag und Nacht durch
ihren Gesang und trieben die Erde dem Ende entgegen. Manchmal warf sich
eine einzelne Stimme empor oder stürzte hinab in die Angst der
Verdammnis. In den weißen Ringeln ihrer Haare wiederholten sich die
Wolken des Himmels. Es sind uralte katholische Tiere, religiöse
Begleiter des Menschen.
Noch einmal im Süden: Der Mensch ist zwischen ihnen doppelt
so groß als sonst und ragt wie der spitze Turm einer Kirche gegen
Himmel. Unter unseren Füßen war die Erde braun, und das Gras wie
eingekratzt graugrüne Striche. Die Sonne glänzte schwer am Meer wie in
einem Spiegel von Blei. Boote waren beim Fischfang wie zu Sankt Petri
Zeiten. Das Kap schwang den Blick wie ein Laufbrett zum Himmel und brach
lohgelb und weiß, wie zur Zeit des verirrten Odysseus, ins Meer.
Überall: Schafe sind ängstlich und blöd, wenn der Mensch naht;
sie haben Schläge und Steinwürfe des Übermuts kennengelernt. Aber wenn
er ruhig stehen bleibt und in die Weite starrt, vergessen sie ihn. Sie
stecken dann die Köpfe zusammen und bilden, zehn oder fünfzehn, einen
Strahlenkreis, mit dem großen, lastenden Mittelpunkt der Köpfe und den
andersfarbigen Strahlen der Rücken. Die Schädeldecken pressen sie fest
gegeneinander. So stehen sie, und das Rad, das sie bilden, regt sich
stundenlang nicht. Sie scheinen nichts fühlen zu wollen als den Wind und
die Sonne, und zwischen ihren Stirnen den Sekundenschlag der
Unendlichkeit, der im Blut pocht und sich von einem Kopf zum ändern
mitteilt wie das Klopfen von Gefangenen an Gefängnismauern.
- Robert Musil,
nach
(arc)