Schändlich.   Ich lese lieber verruchte Bücher als schändliche, möchte die verruchte Tat eher anerkennen als die schändliche, den Mord eher als den Verrat. Als schändlich habe ich merkwürdigerweise schon sehr früh die bekannten Passagen empfunden, in welche der Verfasser des »Contrat social« die ahnungslosen Herzen lockt, und ich meine, jene erste Schwalbe, von der Sainte-Beuve spricht, leitet einen trüben Sommer ein. Es hat mich immer erstaunt, daß junge Leute oft schon so sicher in der Ablehnung komplizierter Erscheinungen sind, längst vor dem Abschluß eines festeren Bewußtseins — aber schließlich geht ja der Geschmack dem Urteil voran.

Das, was schändlich ist und worüber die Meinungen unendlich verschieden sind, habe ich eigentlich früher, wie mir scheinen will, durch den Geschmack viel schneller und sicherer festgestellt, als ich es mir heute klarmachen könnte. Freilich hat man auch beim Trinken sehr schnell heraus, daß das Getränk unzuträglich ist, während diese Abneigung durch die nachträgliche chemische Analyse erst viel später gerechtfertigt wird.

Ich wette, der wahre Freund der Bücher, der verläßliche und unsichtbare Begleiter des Dichters, der es nicht verlernt hat, mit jener Wildheit aufzunehmen, deren man mit sechzehn Jahren fähig ist, wird das körperliche Gefühl kennen, mit dem das Herz das ablehnt, was ihm zuwider ist. Ist ihm nicht jener Augenblick vertraut, in dem man ein Buch bei ganz bestimmten Stellen plötzlich beiseite legt mit dem Gefühl, nicht weiterlesen zu können, ehe man Atem geholt, ehe man sich irgendwie gesammelt hat? mit dem Gefühl, das sich unmittelbar an den Autor wendet: »Dies, dieses Peinliche, diese Demütigung hättest du mir nicht antun dürfen«? 

Ja, daß Hektor erschlagen und daß seine Leiche durch den Sand geschleift wird, das läßt sich ertragen, aber man kann es eigentlich selbst Homer nicht verzeihen, daß er ihn zuvor dreimal schändlich um die Stadtmauer gejagt werden läßt. Denn das Mitleid ist ein Schatten, den das Herz sich auf das strahlende Bildnis des Helden zu werfen scheut, es ist eine Kränkung, die es ihm nicht zufügen möchte — ihm, dessen Sturz und Untergang es wohl mit Rührung und Trauer, ja auch mit einem geheimen Stolze beizuwohnen vermag. Freilich mögen auch den Helden gemeine Anwandlungen bedrängen, wie selbst die Sonne ihre Flecken besitzt, aber wir verlangen von ihm und seinem Dichter, daß er sie verbirgt. Wir verlangen von ihm als dem höchsten Sinnbild des Lebens auch die höchste Vornehmheit, die diesem Leben inne-wohnt — denn selbst das Tier zieht sich, wenn es nicht mehr gerüstet ist, wenn es die tödliche Schwäche überfällt und wenn es fühlt, daß es kampflos sterben muß, in die Dunkelheit zurück.  - (ej)

Schande


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