Schadensregulierung   Ein unplanmäßiger Aufenthalt in Shade Creek war ihr erster Schritt ins Geschäft mit der karmischen Schadensregulierung gewesen. Eine ganze Kleinstadt voller Thanatoiden! Das bedeutete einen nie versiegenden Strom von Klienten, auch wenn die meisten infolge der Geldgier ihrer Erben oder Treuhänder nicht imstande waren, viel zu zahlen. Doch während der Fall des zertrampelten Forschungslabors, obgleich noch alles andere als aufgeklärt, in immer weitere Ferne rückte, wurden Takeshi und DL nach und nach in andere, oft unglaublich komplizierte Geschichten von Enteignung und Verrat verwickelt. Sie hörten von Grundbesitz und Wasserrechten, von Schlägertrupps und Lynchjustiz, von Vermietern, Rechtsanwälten und Bauunternehmern, die stets mit Bezeichnungen für zähflüssige Massen in großen Haufen bedacht wurden, von Unrecht, das nicht nur in der Vergangenheit existierte, sondern auch in der Gegenwart so präsent war wie MAGMAs Verheißung einer langen Zukunft aufopferungsvoller Verbrechensbekämpfung aus der Luft. Nicht lange, und Takeshi und DL mieteten, für die Wochenenden jedenfalls, einen Konferenzraum im «Woodbine Motel», das auf der anderen Seite des Shade Creek der Stadt gegenüberlag. Unter der Woche richteten sie ihr Büro in einer der hinteren Ecken des geräumigen «Zero Inn» ein, wo jeder einfach kommen und etwas zu Protokoll geben konnte.

Doch bevor sie begannen, wollte DL ein ernstes Wort mit Takeshi reden. «Das hier ist nicht Tokio, falls du's noch nicht gemerkt hast - du kannst nicht einfach auf eigene Faust ‹karmische Schadensregulierung› anbieten, ganz gleich, was das sein soll. Keiner wird dich dafür bezahlen.»

«Haha! Da irrst du dich aber gewaltig, mein kleiner Rotschopf! Die werden dafür bezahlen, genauso wie sie für die Müllabfuhr und das Abpumpen der Versitzgruben und die Dreckarbeit auf der Giftmülldeponie bezahlen! Die wollen sich die Hände nicht schmutzig.^

machen-also werden wir's für sie tun! Wir springen kopfüber rein! Kopfüber in die Jauchegrube der Zeit. Wir wissen, daß die Vergangenheit für immer vergangen ist ~ aber sie wissen's nicht!»

«Ich höre immer <wir»...»

«Vertrau mir: Das hier ist wie das Versicherungsgeschäft, nur anders. Ich hab die Erfahrung und, was noch besser ist, die Immunität

Sie hatte Angst vor dem, was das bedeutete. «Die Immunität gegen...» Ihr Blick wanderte zum Oberlicht und zu den Fenstern, und sie machte eine Geste, die die ganze schlaflose Bevölkerung von Shade Creek einschloß. «Takeshi-san, das sind Geister

Er zwinkerte ihr lüstern zu. «Willst du dir selbst auf die Zunge beißen, oder soll ich's für dich tun? Dieses Wort hört man hier gar nicht gern!» Diese Leute, erklärte er ihr, seien Opfer karmischer Diskrepanzen - unerwiderter Schläge, ungerächter Leiden, ungeahndeter Schuld -, Opfer all dessen, was ihre täglichen Versuche, ins Herz des Todes vorzudringen, vereitelten, und Shade Creek sei eine Art seelisch-geistiges Basislager: Dahinter lägen weite, unkar-tographierte Regionen, in denen die ständig fluktuierende Bevölkerung der Zwischenwelt nicht eigentlich lebe, sondern bloß existiere, indem sie sich an die allermagersten Hoffnungen klammere.

Er trat mit ihr ans Fenster, um es ihr zu zeigen. Sie waren die ganze Nacht aufgeblieben, und nun dämmerte der Tag. Obgleich die Straßen unregelmäßig angelegt und steil waren, konnte man aus diesem einen Fenster die Eingänge und zurückspringenden Fassaden und Abzweigungen, kurz, alle Winkel, die normalerweise verborgen waren, deutlich sehen - so unmittelbar wie auf einem naiven Bild, ohne Schatten und Schlupfwinkel, waren jeder erwachende Obdachlose und verlorene Schlüssel, jede leere Dose und Flasche, jedes Stückchen Papier aus der gerade vom Tag abgelösten Nacht diesem Fenster ausgeliefert, durch das Takeshi und DL nun auf die ersten Gähner und Gliederstrecker hinunterstarrten, die sich von öffentlichem Grund erhoben... «Sie wirken so nah... Können sie uns sehen?»

«Das scheint nur so. Es liegt am Morgenlicht.» Hätten sie, während die Sonne aufging, weiter hinausgesehen, so hätten sie bemerkt, daß die Stadt sich veränderte, daß die Ecken der Dinge sich langsam drehten und die Schatten herbeikamen und einige Winkel umklappten, so daß die «Gesetze» der Perspektive wieder in Kraft treten konnten. Um neun Uhr etwa würde die Tagesversion dessen, was man aus diesem sonderbaren Fenster sehen konnte, wieder intakt sein.   - Thomas Pynchon, Vineland. Reinbek bei Hamburg 2015

Schaden

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