augen Der
Neugeborene bedient sich sofort seines Vorteils, der kräftigen
Hinterbeine, und vom Blutdurst getrieben - der Floh kann lange
hungern, sticht dann aber um so empfindlicher - sucht er in langen
Sätzen den Gegenstand, der ihm Nahrung bietet. Da er unter Menschen
und Tieren geboren wurde, so dürften seine Bemühungen bald belohnt
werden. Mit meisterhafter Fertigkeit bohrt er seine spitzen Klingen
ein und saugt in vollen Zügen, stets der Gefahr ausgesetzt, in
seinem Behagen gestört zu werden, oder gar seine Lust mit dem
Leben büßen zu müssen. Hat er sich wacker durchschmarotzt,
ist er den allabendlich auf ihn angestellten Jagden glücklich
entgangen und hat er den Gegenstand seiner tierischen Liebe -
die Männchen sind bedeutend kleiner
als die Weibchen -, so erfüllt er den
Lauf der Natur.
-
(brehm)
Saugen (2) Es ergibt sich zwischen den
Zeilen trotz aller ›Redensarten‹ von Wesen und Natur und Gegensatz
und Hilflosigkeit, daß eigentlich ich der Angreifer gewesen bin,
während alles, was Du getrieben hast, nur Selbstwehr war. Jetzt
hättest Du also schon durch Deine Unaufrichtigkeit genug erreicht,
denn Du hast dreierlei bewiesen, erstens, daß Du unschuldig bist,
zweitens, daß ich schuldig bin, und drittens, daß Du aus lauter
Großartigkeit bereit bist, nicht nur mir zu verzeihn, sondern,
was mehr oder weniger ist, auch noch zu beweisen und es selbst
glauben zu wollen, daß ich, allerdings entgegen der Wahrheit,
auch unschuldig bin. Das könnte Dir jetzt schon genügen, aber
es genügt Dir noch nicht. Du hast es Dir nämlich in den Kopf
gesetzt, ganz und gar von mir leben zu wollen. Ich gebe zu, daß
wir miteinander kämpfen, aber es gibt zweierlei Kampf. Den ritterlichen
Kampf, wo sich die Kräfte selbständiger Gegner messen, jeder
bleibt für sich, verliert für sich, siegt für sich. Und den Kampf
des Ungeziefers, welches nicht nur sticht, sondern gleich auch
zu seiner Lebenserhaltung das Blut saugt. Das ist ja der eigentliche
Berufssoldat, und das bist Du. Lebensuntüchtig bist Du; um es
Dir darin bequem, sorgenlos und ohne Selbstvorwürfe einrichten
zu können, beweist Du, daß ich alle Deine Lebenstüchtigkeit Dir
genommen und in meine Tasche gesteckt habe. Was kümmert es Dich
jetzt, wenn Du lebensuntüchtig bist, ich habe ja die Verantwortung,
Du aber streckst Dich ruhig aus und läßt Dich, körperlich und
geistig, von mir durchs Leben schleifen. - Franz Kafka,
Brief an den
Vater
Saugen (3) Die kleine alte Dame beobachtete ihn beim Lesen, seine dicken Backen wabbelten, während er las und dabei seinen Finger auf die Zeile hielt. Sie schwieg, beobachtete ihn, musterte den Jungen aufmerksam, während er las, sog jedes konzentrierte Stirnrunzeln in sich auf, jede Bewegung seiner Arme und Hände. Sie entspannte sich und ließ sich in ihren Sessel zurücksinken. Er saß sehr nah bei ihr, nur ein kleines Stückchen entfernt. Nur der Tisch und die Lampe standen zwischen ihnen. Wie schön, daß er sie besuchen kam; er kam nun schon seit mehr als einem Monat, von dem Tag an, als sie auf der Veranda gesessen und gesehen hatte, wie er vorüberging, und ihr der Gedanke gekommen war, ihn zu rufen und dabei auf die Kekse neben ihrem Schaukelstuhl zu zeigen.
Warum hatte sie es getan? Sie wußte es nicht. Sie war so lange allein gewesen, daß sie sich dabei ertappte, wie sie merkwürdige Dinge sagte und merkwürdige Dinge tat. Sie sah so selten Leute, eigentlich nur, wenn sie runter in den Laden ging oder wenn der Postbote mit ihrer Rentenanweisung kam. Oder die Müllmänner.
Die Stimme des Jungen murmelte weiter. Sie fühlte sich behaglich, friedlich und entspannt. Die kleine alte Dame schloß die Augen und faltete die Hände im Schoß. Und während sie so saß, halb schlummernd und zuhörend, geschah etwas. Die kleine alte Dame begann sich zu verändern, ihre grauen Falten und Runzeln verblaßten. Während sie da im Sessel saß, wurde sie jünger, die Jugend ließ den dünnen, zerbrechlichen Körper wieder rundlich werden. Das graue Haar wurde voller und dunkler, die dünnen Haarsträhnen bekamen Farbe. Auch ihre Arme wurden fülliger, das gesprenkelte Fleisch nahm einen kräftigen Farbton an, so wie früher, vor vielen Jahren.
Mrs. Drew atmete tief und öffnete nicht ihre Augen. Sie konnte fühlen, daß irgend etwas passierte, aber sie wußte nicht genau, was. Irgend etwas geschah; sie konnte es fühlen, und es war gut. Aber was es war, wußte sie nicht genau. Es war schon vorher passiert, fast jedesmal, wenn der Junge kam und neben ihr saß. Besonders in letzter Zeit, seit sie ihren Sessel näher an die Couch herangerückt hatte. Sie atmete tief durch. Wie gut sich das anfühlte, die warme Fülle, zum ersten Mal seit Jahren eine Spur von Wärme im Innern ihres kalten Körpers!
In ihrem Sessel war aus der kleinen alten Dame eine dunkelhaarige, würdevolle Dreißigjährige geworden, eine Frau mit vollen Wangen und molligen Armen und Beinen. Ihre Lippen waren wieder rot, ihr Hals war sogar ein wenig zu dick, so wie früher, in der längst vergessenen Vergangenheit.
Plötzlich brach das Lesen ab. Bubber legte sein Buch beiseite und stand auf. »Ich muß gehen«, sagte er. »Kann ich den Rest der Kekse mitnehmen?«
Sie blinzelte und streckte sich, um wach zu werden. Der Junge war in der Küche und füllte seine Taschen mit Keksen. Sie nickte benommen, noch gebannt von dem Zauber. Der Junge nahm die letzten Kekse. Er ging durch das Wohnzimmer zur Tür. Mrs. Drew erhob sich. Plötzlich verschwand die Wärme. Sie fühlte sich müde, müde und ausgetrocknet. Sie atmete wieder schnell und schwer. Sie sah auf ihre Hände hinunter. Runzlig, dünn.
»Oh!« murmelte sie. Tränen verschleierten ihre Augen. Es war
vorbei, wieder vorbei, sobald er fortging. Sie wankte zum Spiegel
über dem Kamin und betrachtete sich. Alte, verblaßte Augen starrten
zurück, tiefliegende Augen in einem verwelkten Gesicht. Vorbei,
alles vorbei, sobald der Junge von ihrer Seite gewichen war.
- Philip K. Dick, Die Keksfrau. Aus: Variante zwei. Sämtliche
Erzählungen Band 3. Zürich 1995
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