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Sauerkraut (2) Auf einmal erreichte ich den rettenden Hafen: ein rundes, vom Nebel beschlagenes, aber noch durchsichtiges Fenster gab den Blick frei auf die verschwommenen Umrisse von Stühlen, Spiegeln und einer reichhaltig ausgestatteten Theke.
Es war niemand da, aber die Sitze waren breit und mit tief rotem Plüsch bespannt, während ein doppelter Regenbogen aus Flaschen hinter der Theke funkelte.
»Hallo! Jemand da?«
Meine Stimme trug, so schien mir, weit, erstaunlich weit und verlor sich in unendlichen Tiefen, im dumpfen Widerhall.
»Der Herr wünschen?«
Was für ein seltsamer Mann! Ich hatte ihn nicht vorher gesehen oder kommen hören; er stand plötzlich vor meinem Tisch, als wäre er aus einer Falltür aufgetaucht.
Er hatte ein merkwürdig welkes Clownsgesicht, ganz weiß, mit einem schmalen, eingefallenen Mund und Augen, die nur mit Mühe hinter fettigen Fleischwülsten hervorlugten.
»Ein schönes Sauerkraut, wenn Sie sowas haben.«
»Aber gewiß, mein Herr!«
Ich sah den Kellner weder gehen noch zurückkommen, auf jeden Fall kann ich mich nicht daran erinnern, aber plötzlich stand das Sauerkraut vor mir; es füllte mit üppiger Pracht einen riesigen Teller aus poliertem Zinn, war mit fettem Speck und goldbraunen Würstchen gespickt und mit mächtigen Scheiben Schinken und Braten garniert.
Aber auf einmal, noch bevor ich meine Gabel hatte benutzen können, schoß eine große, blaue Flamme aus dem Sauerkraut empor.
»Wir servieren nur flambiertes Sauerkraut. Eine Spezialität des Hauses«, sagte eine Stimme.
Obwohl ich den Kellner nicht sah, rief ich gutgelaunt:
»Was macht das schon, es wird nur noch besser schmecken!«
Und ich fügte in Gedanken hinzu:
»Flambiertes Sauerkraut, das ist wirklich ein neues Rezept. Genau das Richtige!«
Dennoch fing ich nicht mit der Mahlzeit an... Eine schreckliche, unerträgliche Hitze strahlte die blasse Flamme aus und ich mußte auf meinem Sitz zurückweichen. Ich rief den Kellner; er kam nicht.
Ich stand vom Tisch auf, ging an der Theke vorbei und öffnete eine Tür, die offensichtlich in einen hinter ihr liegenden Raum führte.
Damit eröffnete ich den Reigen der zahllosen, erstaunlichen Ereignisse jenes Abends.
Es gab einen Raum dort, aber er war vollkommen kahl und leer, wie ein Zimmer in einem gerade gebauten Haus oder eins, das Möbeltransporteure gewissenhaft ausgeräumt haben.
Ich knipste meine Taschenlampe an und beschloß, meine Untersuchung fortzuführen. Kurz und gut: ich verbrachte eine beträchtliche Zeit damit, ein leeres, verlassenes, unbewohntes Haus zu durchstreifen, ein Haus ohne Möbel und ohne Hinweis auf irgendwelche frühere Bewohner.
Meiner angelsächsischen Herkunft verdanke ich eine gute Portion Humor, jene gleichsam nüchterne innere Freude, die sich nur schwer ausdrücken läßt, aber eine ausgezeichnete Hilfe in schwierigen Umständen sein kann.
»Ich werde nichtsdestoweniger das Sauerkraut essen«, sagte ich mir, »und die Chance ist recht groß, daß ich nicht zu bezahlen brauche.«
Denn trotz dieser Geheimnisse der Leere und des Schweigens hatte mein Heißhunger nicht nachgelassen; im Gegenteil, ich dachte nur an Würstchen, Speckstreifen und Koteletts...
Ich kehrte ins Restaurant zurück:
Es herrschte dort eine erstickende Hitze und ich konnte mich nicht dem Tische
nähern. Die Flamme reichte jetzt schon fast bis zur Decke; ich sah die Würstchen,
die herrlichen Speckstreifen, den glänzenden Sauerkrauthügel und das Kartoffelpüree
durch einen leichten, blauen Schleier, der aber glühte wie die Hölle
selbst. - Jean Rhys, Das Sauerkraut.
In: Das unsichtbare Auge. Eine Sammlung von Phantomen und anderen unheimlichen
Erscheinungen. Hg. Kalju Kirde. Frankfurt am Main 1979 (st 477, zuerst 1862)
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