argwanderung  An einem stürmischen Tag rutschte der Friedhof ab, und Sebastiana, die zuerst im Nußbaumsarg, dann ganz allein in ihrem von der Finsternis und der Feuchtigkeit zerfressenen weißen Kleid den Abhang hinunterrutschte, landete schließlich mitten auf der Piazza in Taormina. Der erste Passant, ein alter Genuese, der sich auf der verlassenen Piazza vor diesem vor so vielen Monaten gestorbenen Mädchen wiederfand, das mitten auf dem Straßenpflaster kühn ausgestreckt lag, fiel vor lauter Angst fast in Ohnmacht.

Sebastiana wurde auf dem Friedhof in Taormina, ganz nah bei einem nicht zu lauten, aber auch nicht gerade ruhigen Gang erneut bestattet. Verliebte, Frischvermählte, Soldaten, Offiziere und Damen des Roten Kreuzes zogen in den Abendstunden singend, küssend und trällernd an ihr vorüber. Im Verlauf der Monate nahmen die Stimmen der Nacht - vielleicht wegen des dichten Dunkels, in das Meer und Erde sich nach dem Kriegsausbruch gehüllt hatten - einen besonders zärtlichen und ängstlichen Ton an. Menschliche Schreie und Getöse lösten sich mit diesen Stimmen ab und verscheuchten sie schließlich vollständig. Der Krieg rückte näher, rückte noch näher, bis ein Kanonenschuß Sebastiana der Erde entriß und auf den Strand von Giardini in der Nähe des Bahnhofs katapultierte.

Man schrieb das Jahr 1943, das Jahr, in dem die Deutschen sich auf dem Rückzug aus Sizilien befanden und in den Hütten auf dem Lande schlecht träumten, in denen sie sich zum Schlafen neben ihre Maschinengewehre und Feldstecher niederwarfen. Ein wortkarger bayerischer Offizier, eine trockene Bohnenstange, der zu drei Vierteln verrückt und zu einem Viertel erschöpft war infolge seiner Bemühungen, allen anderen zu verheimlichen, daß er verrückt war, glaubte in Sebastianas Leichnam das Antlitz seiner Verlobten wiederzuerkennen, die unter den Trümmern eines öffentlichen Gebäudes in Deutschland gestorben war. An diesem Punkt trieb der Wahnsinn, den er in sich eingesperrt hielt, die Dinge auf die Spitze, und jenes Überbleibsel an Intelligenz, mit dem er ihn zu ersticken suchte, wurde nahezu genial. Er fand einen Weg, Sebastiana in eine Munitionskiste einzuschließen, diese Kiste mit einem schwarzen Tuch zu bedecken und auf dem Geschützkarren unterzubringen und gemeinsam mit ihr den Rückzug anzutreten. Da die von dem Bayern befehligte Abteilung auf der Landstraße die Nachhut bildete, richtete sich auf den Geschützkarren der ganze Zorn der vorrückenden Truppen. Ein Höllenlärm begleitete Sebastianas Bahre auf ihrem Weg nach Norden; die Meerenge von Messina, die sie nachts passierte, wimmelte von Wracks und halb zerrissenen Toten und leuchtete von Zeit zu Zeit auf wie der Fußboden eines Salons, wenn sie ein wie eine Fackel aufloderndes Flugzeug an ihren Busen drückte. Der Deutsche, der stumm, finster und zusammengekauert auf der Kiste hockte wie ein Hund auf dem Grab seines Herrn, segelte rückwärts, die Schultern dem unheilschwangeren Kontinent und die Augen Sizilien zugewandt, das in einem Schein aufleuchtete, der für ihn so geheimnisvoll und unverständlich blieb wie der Sieg jener Männer, die so sehr viel weniger kriegerisch waren als er. Und während er so dahinsegelte, überließ er dem Wahnsinn jenes Überbleibsel an Intelligenz, mit dem er ihn bekämpft und überdeckt hatte. Als er an Land ging, war er vollkommen verrückt. Er nahm die Kiste mit dem schwarzen Tuch hoch, erklomm schreiend eine Anhöhe und schleuderte das arme Mädchen aus Castelmola von dort oben auf den Boden eines großen Floßes, das in jenem Augenblick nach Triest ablegte.

Ohne Lichter, ohne Flagge und ohne Waffen fuhr das Floß das Adriatische Meer hoch. Auf der Höhe von Bari aber wurde es in Brand gesetzt, zerstückelt und versenkt; die Kiste mit Sebastiana, die von einem Schiffbrüchigen vorwärtsgetrieben wurde, der sich daran wie an einen Rettungsring klammerte, legte im Hafen an, wo sie sofort auf einen Autozug geladen und, ohne jede Fahne und mit der Aufschrift »Dynamit« versehen, ins Herz Deutschlands transportiert wurde.

Im Mai 1944 traf diese Kiste in einem polnischen Konzentrationslager ein, wo fast eine Schlacht ausgebrochen wäre. Das Lager geriet von deutschen in russische Hände, von russischen in deutsche und wiederum in russische Hände. Ende Juli verfolgten Pfiffe und Explosionen noch immer die arme Tote, als würde die grausame Welt - vor der Sebastiana als Lebende geflüchtet war, indem sie sich in dem Häuschen in Castelmola versteckt hielt -, die den Leichnam zwischen ihre Klauen bekommen hatte, nie müde werden, ihn hin und her zu rollen, herumzustoßen, zu rütteln und zu schütteln und ihren wütenden Schrei in jenes Ohr hineinzubrüllen, das dank seiner himmlischen Taubheit für immer von allen Sorgen befreit war.  - Vitaliano Brancati, Sebastiana. Nach (branc)

 

Sarg Wanderung

 

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