arg, chinesischer  Märtyrerliste, der Gemarterte, Märtyrer, heilige Reliquie... Ein auserwählter Körper; ein Leib in seiner Glorie...

Und was habe ich gesehen? Ein Aas. Verklärt zwar, und ich weiß es wohl; doch vor allem und für immer: ein Aas. Hier, an den äußersten Grenzen Chinas und Tibets habe ich es gesehen, erkannt, mit den Händen berührt.

In einem Schuppen ein allzu enger chinesischer Sarg, der elend mit seinem Holz knausert. Ein sehr geschäftiger junger Missionar, der mit der Ausführung der Zeremonien betraut ist, umflattert einen Prälaten, den Bischof von Heracleopolis, inpartibus inßdelium. Der eine wie der andere scheinen sich große Sorgen zu machen über den Gestank. Der Radaver ist zweiundzwanzig Tage alt; zweiundzwanzig Tage heißen Weges seit dem Hinterhalt, in dem die tibetischen Lamas ihn mechanisch erschossen und dann zerhackt, zerfetzt, zertrampelt, zerschlagen haben. Es muß etwas gegen den Gestank getan werden. Man riecht zwar noch nichts, aber man befürchtet es. Man sucht nach chinesischen Mitteln, die etwas heidnisch sind: den mit Weihrauch vermengten Stäbchen aus Eselsmist, die bei den Buddhisten in Gebrauch sind. Man kauft welche an der Straßenecke und tut sie überall hin: zwischen die aus den Fugen gegangenen Bretter des Sarges, in die Risse der Balken des Schuppens... Man gibt den Anwesenden welche; man hobelt auch Späne von Sandelholz und versucht, sie zum Brennen zu bringen; man gedenkt, stinkenden chinesischen Alkohol zu verbrennen und durchstöbert die Armenklinik und ihre Vorräte an Fläschchen und Desinfektionsmitteln. Nur die Stäbchen glimmen gut und durchräuchern die graue, unbewegliche Luft. Man wagt es, den Sarg zu öffnen.

Kein Leichentuch, außer dem kümmerlichen durchschwitzten Laken über dem Gesicht, und der Körper ist noch bekleidet, zu bekleidet, zu natürlich mit seinen wirklichen Kleidern des lebenden Menschen bedeckt: mit jenem chinesischen Soutanenkleid, am Bauch gebläht, eng an den Schultern, die der allzu schmale Sarg zusammenquetscht - die Ellbogen sind eingeklemmt, nach vorne gedrückt. Einer, der ein Mensch war, erstickt da, nachdem er einundzwanzig Tage in dieser Kiste gereist ist, zusammen mit seinen grünen Schmeißfliegen, unter der vor Strahlenausbrüchen surrenden Sonne.  - Victor Segalen, Aufbruch in das Land derWirklichkeit. Frankfurt am Main und Paris 1984  (zuerst 1924)