Samariter   Im Ameisennest, ähnlich wie in unseren Städten, bleibt unter den Vorübergehenden manchmal - mit den Worten des Evangelisten zu reden - ein barmherziger Samariter stehen. Ob es häufiger vorkommt als bei uns? Darüber sind die Meinungen geteilt; jedenfalls scheint es ihn zu geben. Und das ist sicherlich weit merkwürdiger und wunderbarer, als wäre die Barmherzigkeit ein allgemeiner Instinkt; denn dann brauchte man ihren Grund nur in einem organischen Gesetz zu suchen, welches dem Tier geböte; sie würde zu einer naturgegebenen, selbstverständlichen Eigenschaft, sie verlöre alles Verdienst und jede Beziehung zu uns.

Ich will hier nicht an Züge erinnern, die meines Erachtens hinreichend bekannt sind und sich in allen Schriften über Ameisen finden. Ich führe nur die kleine, fühlerlos geborene Fusca an. Nach einem feindlichen AngrifFlesen ihre Landsleute sie auf und tragen sie heim zum Nest. Ich denke an die unglückliche, auf dem Rücken liegende Ameise, die unfähig, sich aufzurichten und zu ernähren, von den Ihrigen gerettet wird; ferner an die sinnlos betrunkenen Arbeiterinnen (Opfer unserer Experimente), die zu ihrer Behausung zurückgebracht werden; oder an die versehentlich zerquetschte Königin der Lasius Flavus, die von ihrem Volk wochenlang weitergepflegt wird, als wäre sie noch am Leben. Schon Huber hatte übrigens beobachtet, daß fünf bis sechs Arbeiterinnen tagelang bei einer königlichen Leiche ausharrten, sie unablässig bürsteten und beleckten. »Möglich«, fugt er in seiner netten Art hinzu, »daß sie einen Rest von Zuneigung für ihre tote Herrscherin bewahren, möglich auch, sie hoffen, durch ihre Pflege werde sie wieder lebendig.«

Diese Beispiele könnte ich noch durch Forschungsergebnisse Ebrard's ergänzen. Bei dem hohen wissenschaftlichen Rang der Berichterstatter würden sie, als noch niemals von irgend jemandem in Zweifel gezogen, beweisen, daß auf den Ameisenstraßen mehr Samariter wandeln denn auf dem verkehrsreichen Wege von Jerusalem nach Jericho.

Jeder einzelne Zug müßte übrigens unter die Lupe genommen werden. Das Beispiel der kleinen, fuhlerlosen Fusca, des auf dem Rücken liegenden Insekts, der sinnlos betrunkenen Arbeiterinnen könnte daraufhindeuten, daß, wie Forel behauptet, die Ameisen sich lediglich um Verwundete und Kranke bekümmern, soweit sie noch der Allgemeinheit zu nützen vermögen. Was die zerquetschte Königin und jene Huber'sche angeht, so besteht die große Wahrscheinlichkeit, daß die Umgebung eine gewisse Zeit braucht, ehe sie den eingetretenen Tod wirklich erkennt.   - (maet)

 

Barmherzigkeit

 

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