Salzsäule  Unter ihrem steinernen und verwitterten Mantel war sie hager wie ein Gespenst. In der unbarmherzigen Glut der Sonne brannten die Felsen, glitzerte die Salzschicht auf dem Laub der Terebinthen. Im gleißenden Mittagslicht sahen die Sträucher aus, als wären sie aus Silber. Wenn der Wind wehte, so erzählten die Pilger, konnte man in ihnen die Klagen der Geister jener Städte vernehmen.

Sosistratus näherte sich der Salzsäule. Der Wanderer hatte die Wahrheit gesagt. Eine zarte Nässe bedeckte ihr Gesicht. Die weißen Augen, die weißen Lippen waren reglos, im jahrhundertelangen Schlaf erstarrt. Kein Anzeichen von Leben war an dieser steinernen Statue zu entdecken. Seit Jahrtausenden brannte die Sonne unerbittlich auf sie herab, und doch war, da der Schweiß auf ihrer Stirn stand, Leben in ihr. Ein solcher Schlaf barg das ganze Geheimnis der biblischen Schrecken. Jahves Zorn war über dieses Wesen, diese grauenvolle Mischung aus Fleisch und Fels gekommen. War es nicht Vermessenheit, diesen Schlaf stören zu wollen? Würde nicht der Wahnwitzige, der dieses verfluchte Weib erlösen wollte, ihre Sünde auf sich laden? Das Geheimnis zu enthüllen ist verbrecherischer Wahnsinn, vielleicht gar eine Versuchung der Hölle. Voller Verzweiflung kniete Sosistratus nieder, um im Schatten eines kleinen Waldes zu beten...

Den genauen Ablauf der Ereignisse werde ich euch nicht schildern. Ihr sollt nur wissen, daß sich das Salz der Säule, als es mit dem geweihten Wasser in Berührung kam. langsam auflöste und vor den Augen des Einsiedlers eine Frau erschien, so alt wie die Ewigkeit, eingehüllt in gräßliche Lumpen, aschfahl, dürr und zittrig, beladen mit der Last von Jahrtausenden. Der Mönch, der dem Satan ohne Furcht entgegengetreten war, wurde bei dieser Erscheinung von Grauen erfaßt. Mit ihr war das verdammte Volk auferstanden. Diese Augen hatten gesehen, wie der göttliche Zorn Feuer und Schwefel auf die verruchten Städte regnen ließ; diese Lumpen waren aus dem Haar der Kamele Lots gewebt worden; diese Füße hatten in der Asche des vom Ewigen Vater gesandten Feuers ihre Spuren hinterlassen! Und die gespenstische Frau sprach zu ihm mit ihrer alten Stimme.  - Leopoldo Lugones, Die Salzsäule. Stuttgart 1984 (Die Bibliothek von Babel 15, Hg. Jorge Luis Borges)

 

Salz Säule

 

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Erstarrung Lots Weib
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