Säulenheilige

 

- Marcantonio Raimondi

Säulenheilige (2) »Ich helfe Ihnen ein wenig nach und sage Ihnen, daß vor dem Deutschprofessor mindestens hundertfünfzehn junge Männer aus den besten Familien von Ascoli und Umgebung um ihre Hand angehalten hatten.«

»Ihre Großmutter bewahrte wohl die Briefe mit den Heiratsanträgen auf?«

»Kalt, kalt. Ich füge noch hinzu, daß viele der verschmähten Jünglinge unversehrt aus dem Abenteuer hervorgingen, heirateten, Karriere machten, in Wohlstand alt wurden, geschätzt von allen Bürgern der Stadt, auch von meiner Großmutter. Andere dagegen, vielleicht mit schwächerem Charakter oder von tieferer Leidenschaft, wurden von einem seltsamen Wahn erfaßt. Haben sie schon einmal von den Styliten sprechen hören?«

»Von den Styliten? Ja, ja, die gibt es: Das sind doch die alten orientalischen Anachoreten, die den höchsten Punkt einer Säule als Wohnsitz wählten, um in asketischer Abgeschiedenheit zu leben. Ja, von denen habe ich gehört, aber es fällt mir schwer, das zu glauben. Ich frage mich zum Beispiel, wie sie gewissen Bedürfnissen nachkamen, ohne herabzusteigen und ohne Ärgernis zu erregen. Aber natürlich, das erzählt man von ihnen. Das heißt also, eine Säule. Und auch die jungen Männer aus Ascoli?«

»Ja, sie auch, einer nach dem anderen, siebenundzwanzig an der Zahl, sie zogen sich ins Trontotal zurück, jeder auf einer Säule entweder aus Tuffstein oder aus Ziegeln, jeder an einer eigens dafür ausgesuchten Ecke, in einem Wald, an einem Abgrund, an einer Flußschleife.«

»Und wovon lebten diese modernen Anachoreten der Liebe?«

»Für den Unterhalt sorgten die Familien, mit verschiedenerlei Methoden. Einige Styliten hatten eingewilligt, einen mit einem Seil versehenen Korb auf ihre Säule zu stellen, den sie hinunterließen, sobald der Diener mit dem Proviant auftauchte. Andere, die den Korb abgelehnt hatten, erreichte man mit langen Stangen, an die man Hühnchen am Spieß, Würste, Schafskäse und je nach Jahreszeit Birnen und Pfirsiche aus unserer Gegend steckte, Sie haben sicher schon verstanden.«

»Aber trotzdem, der Unbill der Witterung waren sie ausgesetzt, die armen jungen Männer...«

»Denken Sie, nur einer hatte eingewilligt, sich mit einem großen grünen Regenschirm, wie ihn die Hirten haben, recht und schlecht Zu schützen.«

»Da wird es jede Menge Bronchitis gegeben haben.«

»Nicht einmal so häufig. Es waren lauter gesunde, kräftige junge Männer, Sportstypen. Auf diesen Säulen wurde täglich geturnt. Manche lernten perfekt Yoga. Und im übrigen ließen sich alle im Lauf von zwei bis drei Jahren überreden, -wieder auf den Boden zurückzukehren. In die Stadt kehrte keiner zurück: Manche emigrierten nach Turin oder nach Guatemala, andere fuhren zur See, wieder andere zu Handels zwecken in den Orient, wodurch sie überall den guten Ruf unseres schönen Ascoli verbreiteten.«

»Einverstanden«, sagte ich, »und ich freue mich auch darüber, für sie und für ihre Familien. Aber ich sehe nicht, an welcher Stelle dieser Geschichte die Sammlung Ihrer Großmutter ihren Platz hat. Wenn sich die jungen Männer umgebracht hätten, dann hätte sie ihre gebrochenen Herzen sammeln können, aber so...«

»Die gute Frau! Sie war gewiß keine Messalina. Sondern eine freundliche, sensible Person, nur ein klein wenig kokett, in allen Ehren natürlich. Als die jungen Männer in ihrer vorübergehenden Verzweiflung sich für das harte Dasein des Styliten entschieden, schickte sie ihnen insgeheim eine durchaus verläßliche Person nach, die den Auftrag hatte, sie heimlich zu fotografieren, während sie mit gekreuzten Beinen auf ihren Kapitellen hockten. So waren in der Handtasche meiner Großmutter siebenundzwanzig Photographien versammelt, auf denen ebensoviele Styliten aus dem zwanzigsten Jahrhundert abgebildet waren. Ein historisches Dokument von höchster Bedeutung, mein Herr.«

»Nur schade, daß die Sammlung verloren gegangen ist...«  

»... und daß Sie mir nichts glauben.«  - Gianni Rodari, Das fabelhafte Telefon. Wahre Lügengeschichten. Berlin 1997 (Wagenbach Salto 65, zuerst 1962)

Säulenheiliger (3)  1964 bot mir Alatriste die Möglichkeit, in Mexiko einen Film über die erstaunliche Figur Symeons des Stiliten zu drehen, eines Einsiedlers aus dem vierten Jahrhundert, der mehr als vierzig Jahre auf einer Säule in der syrischen Wüste verbrachte.

Diese Geschichte war mir nicht aus dem Kopf gegangen, seit mir Lorca in der Residenz die Legenda aurea zu lesen gegeben hatte. Er mußte jedesmal lachen, wenn er vorlas, daß die Exkremente des Einsiedlers, die an der Säule hinunterflössen, dem herablaufenden Wachs an einer Kerze glichen. Dabei wird, da er sich von ein paar Salatblättern nährte, die man ihm in einem Korb hinaufschickte, sein Stuhlgang wohl eher Ziegenkötteln geglichen haben.  -  Luis Buñuel, Mein letzter Seufzer. Berlin, Wien, Frankfurt am Main 1985

Säulenheiliger (4)  Eines Tages ist der Kreis um mich so sehr zusammengeschrumpß, daß ich mich als Säulenheiliger sah, ohne es Je gewollt zu haben!

- Auf einer Säule aus Marmor?

- Eher aus schmelzendem Wachs, wie auch der Kreis schon. Säulenheiliger also auf einer Kerze: einer Kerze, von der ich die Flamme bin, einzig damit beschäftigt, zu verbrennen.  - (leiris2)

Säulenheiliger (4) 

Säulenheiliger

- N. N.

 

Säule Heiliger

 

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