Sängerin, tragische   »Wenn du nicht stehenbleibst«, schrie der Junge, »werfe ich den Stein nach dir.«

Sie aber wollte oder konnte nicht stehenbleiben. In einer wilden, besinnungslosen Hoffnung, der böse Streit möge doch noch in einer Umarmung enden, hob sie mit zwei Fingern ihren Rocksaum und tat, wie im Tanz, einen leichten Schritt nach oben.

Sie hatte sich kaum gerührt, da schleuderte Emanuele seinen Stein. Sie hatte ihm öfters beim Steinwerfen zugesehen; er war darin sehr geschickt. Diesmal aber hatte wohl der entsetzliche Gemütsaufruhr seine Hand unsicher gemacht oder ihn die Entfernung falsch einschätzen lassen. Der Stein streifte nur ihren Kopf, und der Stoß wurde überdies von ihrem dicken Haar abgefangen. Doch taumelte sie und ging auf ein Knie nieder und fühlte dabei, wie ihr das Blut warm und feucht über die Stirn und das linke Auge sickerte.

Ehe sie noch aufstehen konnte, sauste ein zweiter Stein an ihrem Ohr vorbei. Nun wurde sie wütend. Während der dreizehn leeren Jahre ihrer Flucht war sie nie ärgerlich geworden; jetzt aber in Sekundenschnelle sah sie sich urns Doppelte in der Zeit zurückgeworfen. Ihre ganze Empörung scholl nach oben, in der Mundart ihres Heimatdorfs; sie war jetzt so kampfbereit wie ein zähes kleines Dorfgör, wenn ein Junge unanständige Kampfmittel anwendet.

»Du Knoten!« schrie sie. »Du vergammelter Bauernlümmel! Mit Steinen schmeißen, das kannst da, was! Beißen wirst du womöglich auch, nachher, wenn ich dich am Latz kriege!«

»Weißt du überhaupt, auf wen du da mit Steinen schmeißt?« fuhr sie fort. »Ich brauche nur die Stimme zu erheben, dann sind tausend Leute zur Stelle, ein Papst, ein Kaiser, Fürsten, Gondelführer und Bettelleute, und zahlen dir's heim, du Narr!«

Sie holte Atem. »Ja, ich bin eine Hexe«, rief sie. »Eine ganz große Hexe, ein Vampir mit Fledermausflügeln. Aber was bist du für einer, daß du dich nicht mal herunterwagst, nicht mal Schneid hast, mit einer Hexe zu spielen. Was meinst du, ist so eine Feiglingsseele wert? Seele, daß ich nicht lache, auf der willst du herumsitzen wie eine englische Miß auf ihrer Jungfernschaft, und deine Freundchen, die schieläugigen Holzköpfe, sitzen im Kreis herum und beten, daß es verschont bleibt, das Seelchen! Den einen Menschen unter euch, der gewußt hat, was eine Seele ist, den habt ihr weggeschickt. Ich sage euch, ihr seid ja vergiftet von eurer Seele, sie ist ein fauler Zahn, laßt sie euch ziehenl«

Sie hätte noch mehr gesagt und hätte sich glücklich dabei gefühlt, jetzt, wo ihr Stärke zurückgegeben war und das Blut ihr mit Macht aufwallte. Aber sie hielt jählings inne, denn in ihr Ohr drang der Klang ihrer Stimme. Was das Brüllen einer Löwin hätte sein sollen, war das Zeichen einer Gans und bereitete ihr Schmerzen in Hals und Brust. Einen Augenblick mußte sie sich mit der Hand gegen die Steinmauer stützen; dann wandte sie sich um und stieg hinab.

Auf der zweiten Stufe abwärts stieß ihr Fuß gegen den Stein, den er nach ihr geworfen hatte. Sie hob ihn auf, rieb ihn gegen die Schramme auf ihrer Stirn und warf ihn halb über die Schulter weg in leichtem Schwung nach oben, so daß er dem Buben vor die Füße fiel.

»Da, den kannst du behalten«, sagte sie. »Pellegrina Leonis Blut ist daran!«    - Tania Blixen, Widerhall. Letzte Erzählungen. München 1968

 

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