Sackkarre  Ab und zu brach Mondschein durch die aufgerissenen Wolken. Einige sogenannte Sackkarren - damit hatte man früher die Mehlsäcke transportiert - lagen oder standen in einem Winkel herum. Ich suchte mir die beste davon aus: sie mußte möglichst lautlos fahren; die zwei kleinen gummibereiften Räder mußten noch möglichst viel Luft enthalten. Vor dem Verwaltungseingang legte ich die Sackkarre flach auf den Boden und bettete seinen Körper darauf: kopfunter, mit dem Kopf auf die untere Basisplatte aus Stahlblech; seine Kniegelenke bog ich über die obere Querstange der Karre, die Füße arretierte ich unter den beiden Stahlstreben, die sich x-förmig gekreuzt zur unteren Querstange hinabzogen; danach stopfte ich seine Hände unter den Hüftgummi seiner Jogging-Hose, der mir ausreichend eng vorkam. In den Hosentaschen fand ich einen Personalausweis - ich machte mir in der Dunkelheit, der Mond war wieder in den Wolken verschwunden, nicht die Mühe, den Namen zu lesen -, ein Päckchen Zigaretten, ein Feuerzeug und einen Schlüsselring mit zwei Sicherheitsschlüsseln; ich stopfte die Utensilien in die Hosentaschen zurück, die übrigens mit Reißverschlüssen verschließbar waren. Schließlich bedeckte ich sein Gesicht - die Augen, das sah ich im Licht der Taschenlampe, waren noch immer weit aufgerissen, aber es war kein Blick mehr in den Pupillen - und einen Teil des Oberkörpers mit den Fetzen einiger Plastikplanen, die vom Wind über den Hof geweht wurden. Ich fuhr ihn nicht die Hauptstraße entlang, sondern über einen Umweg, der mich etwa eine Viertelstunde mehr Zeit kostete, aber hier gab es auch jetzt, Jahre nach dem Systemwandel, noch keine nennenswerte Straßenbeleuchtung. Ich gelangte vor die Einfriedung, die einen weiträumigen Fabrikkomplex von den Straßen abtrennte, die den Stadtrand bildeten: ich kannte all jene Tricks, mit denen man durch auf- und zuschiebbare Zaunfelder, durch im Rücken der Werkhallen gelegene Hintertüren, die niemand je abschloß, weil niemand von ihnen wußte, durch Gerümpelkammern, durch noch nie benutzten Bäder, durch verwinkelte Gänge eines Bereichs, der schon seit der Vorkriegszeit nicht mehr in Betrieb gewesen war, bis ich in das alte Kesselhaus gelangte, in dem ich einst als Heizer gearbeitet hatte. Durch dieses Labyrinth hatten wir früher den Alkohol in die Betriebsstätten geschmuggelt; wahrscheinlich war ich der einzige Mensch in der Stadt, der den Geheimweg noch kannte. Es war nicht einfach, die Sackkarre, deren Last mir immer schwerer wurde, durch die gewundenen Gänge, über Schwellen, über Schutthaufen, treppauf, treppab bis in den Heizungskeller zu bugsieren; besonders schwierig war es, mit der Taschenlampe zwischen den Zähnen, über eine schmale Eisentreppe auf das Oberdeck der drei Kessel zu gelangen, wo sich die Füllschächte für die Kohle befanden. Als ich oben war, hatte ich allen Grund zu verschnaufen; ich rauchte eine Zigarette und blickte mich im Schein der Taschenlampe um: abgesehen davon, daß hier alles verrottet, verrostet, verdreckt und von Spinnweben verhangen war, daß Tisch und Stühle zu Füßen der Kessel zerbrochen im Staub lagen, war hier alles noch beim alten ... als ich den Schacht des mittleren Kessels öffnete - es ging nur unter Anwendung von Gewalt -, sah ich, daß die Brennroste und der Aschekanal weder entschlackt noch entascht worden waren. - Wie sollte ich das merkwürdige Gefühl beschreiben, das mich in diesem Augenblick überkam? - Hier hatte ich einen Teil meiner sogenannten jungen Jahre dreingegeben, irgendwie war ich hier zu Hause gewesen. Tatsächlich, es war eine Art Heimatgefühl, das mich hier erreichte, denn an diesem Ort -und sonst scheinbar nirgendwo - war ich einmal gebraucht worden ...

Ich warf seinen Körper in den Füllschacht des mittleren Kessels, kurz über dem Feuerrost, aufgrund der sich stark verjüngenden Innenwände des Brennstoffraums blieb er hängen, und ich brachte ihn mittels eines herumliegenden Schürhakens in eine waagerechte Lage; sein Gesicht sah ich nicht mehr, es war durch den Spalt der Innenwände gefallen, seine Stirn lag in der uralten Schlacke. Dann zerrte ich den Kohlewagen über den Schacht; der Kohlewagen, in Form eines auf den Kopf gestellten, abgeschnittenen Pyramidenstumpfs, hing an einer an der Decke angebrachten Gleitschiene und ließ sich mit Hilfe eines Kettenzugs über den drei Kesseln hin und her bewegen; an der Kraft, die ich dafür aufwenden mußte, erkannte ich, daß der Wagen noch voller Kohle war. Ich riß das Schubblech des Wagens auf, dröhnend und fauchend, eine ungeheuere Staubwolke verbreitend, schoß die zerfallene ausgetrocknete Rohbraunkohle, jener einst wertvolle Stoff, der nun völlig verkommen war, in den Kessel und füllte ihn bis weit über die Hälfte ... der Leichnam war nicht mehr zu sehen. Alles, was er über mich gewußt hatte - während ich von ihm nur gewußt hatte, daß er mir sehr ähnlich gewesen war -, war mit einem Mal verschwunden.   - Wolfgang Hilbig, Der dunkle Mann. In: W.H., Der Schlaf der Gerechten. Frankfurt am Main 2003

 

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