usse
Wir anständigen Leute unter den Russen hegen eine Vorliebe für solche
Fragen, die ohne Lösung bleiben. Die Liebe wird meist
poetisiert, man schmückt sie mit Rosen und Nachtigallen,
wir Russen aber schmücken unsere Liebe mit diesen schicksalhaften
Fragen aus und wählen zudem aus ihnen die alleruninteressantesten. Als ich noch
in Moskau Student war, besaß ich eine Lebensgefährtin, ein liebes Dämchen,
die jedesmal, wenn ich sie in meinen Armen hielt, daran dachte, wieviel ich
ihr für den Monat aussetzen werde und was das Pfund Rindfleisch koste. So auch
wir - wenn wir lieben, hören wir nicht auf, uns derartige Fragen zu stellen:
ob es ehrenhaft oder nicht ehrenhaft, ob es klug oder dumm sei und wohin diese
Liebe führe und so weiter. Ob das gut ist oder nicht, das weiß ich nicht, doch
daß es hindert, daß es nicht befriedigt und daß es reizt - das weiß ich sicher.
- (
tsch
)
Russe
(2) Artjom konnte nicht begreifen, warum er im
Gefängnis landete. Der russische Bauingenieur hatte seine Arbeit gemacht, ein
neues Projekt vorbereitet. Einige Wochen lang vertrat er die Chefs. Als das
Baumaterial nicht wie geplant ankam, versuchte er sie zu erreichen - vergeblich.
Die Chefs blieben ebenso verschwunden wie die acht Millionen Dollar der Investoren.
Doch dann forderte ein Ermittler von Artjom plötzlich eine Million. Andernfalls
würde man ihm die Sache anhängen. Das Geld hatte er nicht. Der Ingenieur wurde
zu acht Jahren Haft verurteilt. Seinen Kindern konnte er nicht mehr in die Augen
sehen. Im Gefängnis versuchte er, sich das Leben zu nehmen. - Claudia
von Salzen, nach: Michail Chodorkowski, Meine Mitgefangenen. Berlin (Galiani)
2014. Tagesspiegel vom 14. Juni 2014
Russe (3)
Wolodja kam ins Gefängnis, weil er von einem Konto, das einem
Angehörigen der Sicherheitskräfte gehörte, Geld abgezweigt hatte, vermutlich
Schwarzgeld. Kurz vor seiner vorzeitigen Freilassung wurden plötzlich neue Vorwürfe
laut. Die Ermittler behaupteten, Wolodja - ein kleiner, hinkender Mann - habe
einen Mithäftling zu Tode geprügelt. Dieser saß im Gefängnis, weil er im Suff
eine Flasche Wein gestohlen hatte. Doch Wolodja war ihm nie begegnet, die Gefängnisakten
und die Aussagen von Ärzten und Aufsehern bestätigten das. Dennoch
warf man ihm vor, dem anderen mit zwei Faustschlägen
19 Rippen gebrochen zu haben. Der Mann, der nur eine Weinflasche gestohlen hatte,
starb an einer Verletzung der Milz. Es sei unmöglich, mit zwei Faustschlägen
so viele Rippen zu brechen, argumentiert Chodorkowski. - Claudia
von Salzen, nach: Michail Chodorkowski, Meine Mitgefangenen. Berlin (Galiani)
2014. Tagesspiegel vom 14. Juni 2014
Russe (4)
Man muß sich darüber im klaren sein, daß der Russe ein ganz
entzückender Mensch ist, solange man sein Hemd nicht sieht. Als Orientale genommen,
ist er einfach hinreißend; - wenn er aber verlangt, als Ostlichster der Westlichen
behandelt und angesehen zu werden, statt als Westlichster der Östlichen, dann
hat man eine Kategorie Mensch vor sich, von dem man beim besten Willen nicht
weiß, wie man mit ihm umspringen soll. Hat man ihn zu Gast, so weiß man nie,
welche Seite seiner Natur er im nächsten Augenblick herauskehren wird ... -
Rudyard Kipling, Der Ausgelöschte. Nach
(ki)
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