ückblick  Dummheit ist nicht meine Stärke. Ich habe viele Individuen gekannt, ich habe einige Nationen besucht, ich habe an verschiedenen Unternehmungen mit teilgenommen, ohne Liebe dazu, ich habe fast jeden Tag gegessen, ich habe Frauen berührt. Ich blicke jetzt zurück auf ein paar Hunderte von Gesichtern, zwei oder drei große Schaustücke, und vielleicht die Substanz von zwanzig Büchern. Ich habe nicht das Beste, auch nicht das Schlechteste von diesen Dingen behalten: es blieb was konnte. - Paul Valéry, Herr Teste. Frankfurt am Main 1965 (BS 162, zuerst 1895)

 Rückblick (2)  

Die Dreiunddreißigjährige

Sie hat sich das alles ganz anders vorgestellt.
Immer diese verrosteten Volkswagen.
Einmal hätte sie fast einen Bäcker geheiratet.
Erst hat sie Hesse gelesen, dann Handke.
Jetzt löst sie öfter Silbenrätsel im Bett.
Von Männern läßt sie sich nichts gefallen.
Jahrelang war sie Trotzkistin, aber auf ihre Art.
Sie hat nie eine Brotmarke in der Hand gehabt.
Wenn sie an Kambodscha denkt, wird ihr ganz schlecht.
Ihr letzter Freund, der Professor, wollte immer verhaut werden.
Grünliche Batik-Kleider, die ihr zu weit sind.
Blattläuse auf der Zimmerlinde.
Eigentlich wollte sie malen, oder auswandern.
Ihre Dissertation, Klassenkämpfe in Ulm, 1500 
bis 161/2, und ihre Spuren im Volkslied
:
Stipendien, Anfänge und ein Koffer voller Notizen.
Manchmal schickt ihr die Großmutter Geld.
Zaghafte Tänze im Badezimmer, kleine Grimassen,
stundenlang Gurkenmilch vor dem Spiegel.
Sie sagt: Ich werde schon nicht verhungern.
Wenn sie weint, sieht sie aus wie neunzehn.

 - Hans Magnus Enzensberger, Die Furie des Verschwindens. Frankfurt am Main 1980 (es 1066)

Rückblick (3)  Wenn ein Mensch vor einem Spiegel steht und in diesem seine Reflexion betrachtet, dann sieht er nicht sein wahres Abbild, sondern er sieht ein Bild, das ihn als jüngeren Menschen darstellt. Die Erklärung, die de Selby für dieses Phänomen liefert, ist denkbar einfach. Es gibt eine nachgewiesene und definierte Zeit, die das Licht braucht, um einen Weg zurückzulegen, die Lichtgeschwindigkeit. Daher ist es nötig, daß, bevor man von einem Objekt sagen kann, daß seine Reflexion in einem Spiegel stattgefunden hat, die Lichtstrahlen zuerst das Objekt treffen und erst dann auf das Glas des Spiegels stoßen, um auf das Objekt zurückgeworfen zu werden - die Augen eines Menschen zum Beispiel. Daraus folgt die Existenz eines abschätz- und meßbaren Zeitintervalls zwischen dem Blick, den ein Mensch auf sein Gesicht in einem Spiegel wirft, und der Registrierung des reflektierten Bildes in seinem Auge.

So weit, so gut, ist man versucht zu sagen. Mag diese Idee nun stimmig sein oder nicht, so ist doch die damit verbundene Zeitspanne so unbedeutend, daß sich nur wenige Menschen von Verstand ernsthaft mit diesem Punkt auseinandersetzen werden. De Selby jedoch, nie ein Freund von Halbheiten, besteht darauf, die erste Reflexion in einem weiteren Spiegel zu reflektieren und die winzigen Unterschiede in diesem zweiten Abbild ausfindig zu machen. Schließlich konstruierte er die bekannte Versuchsanordnung paralleler Spiegel, deren jeder die schwächer werdenden Abbilder eines zwischengeschalteten Objekts unendlich reflektiert. Bei dem zwischengeschalteten Objekt handelte es sich in diesem Fall um de Selbys eigenes Gesicht, und dieses habe er, gibt er an, durch eine Unendlichkeit von Reflexionen »mit Hilfe eines starken Glases« rückwärts studiert. Was er durch dieses Glas gesehen zu haben behauptet, ist erstaunlich. Er benchtet, er habe in den Reflexionen seines Gesichts eine zunehmende Jugendlichkeit bemerkt, und zwar der zunehrn den Entfernung der Spiegel entsprechend, wobei die entfern teste - zu winzig, um unbewaffneten Auges wahrgenommen zu werden - das Gesicht eines bartlosen Knaben von zwölf Jahren war, welches, um es in seinen eigenen Worten zu sagen, »Züge von einzigartiger Schönheit und unvergleichlichem Adel« aufwies. Es gelang ihm allerdings nicht, den Gegenstand bis zur Wiege zurückzuverfolgen, wofür er »die Erdkrümmung und die Grenzen des Teleskops« verantwortlich machte.  - Flann O'Brien, nach: Der Rabe, Magazin für jede Art Literatur Nr. 35, Zürich 1993

Rückblick (4)

o. O.    16. Oktober 19 63

Liebe Natalie:

nun kommt der Winter wieder mit seinen mißlichen Nachrichten, dem Tod von Piaf und Cocteau; ich habe die Piaf nicht gekannt und bin Cocteau nur kurz begegnet; aber nichtsdestoweniger rafft es uns dahin, unsere legendäre Zeit ist dabei Geschichte zu werden.

Ich schreibe und schreibe, obgleich - wie die Deutschen über Nachtgewächs sagen - »was bleibt danach noch zu schreiben übrig!« Immerhin, es gab Antiphon; vielleicht könnte ich ja auch die sechs Bände meiner Notizen nach einem Gedicht, einem kurzen Artikel oder sonst irgend etwas durchstöbern; jedenfalls ist das alles, was von einem vollbefrachteten Schiff übrig ist. Wie denkst Du über unsere Zeit damals, die man heute gerne als die »verhängnisvollen zwanziger (dreißiger, vierziger, fünfziger, sechziger) Jahre« bezeichnet? jetzt da wir so ziemlich alles hinter uns haben? Mir erscheint sie als eine Zeit vollkommener (wenn auch verdorbener) Unschuld, wenn man sie mit der fürchterlichen Zeit vergleicht, zu der sie herangewachsen ist. Ich halte mich nicht gerade für prüde, aber offen gesagt bin ich schockiert über das, was heute geschrieben wird, über die Stücke, die jetzt auf die Bühne kommen, über die Zeitschriftentitel am Kiosk, über Reden und Verhalten auf der Straße - und was die Horrorberichte aus Europa angeht und »das was kommt« ... wer kann das fassen oder verstehen?

Ich nehme an, Du gehst bald wieder mit Romaine in den Süden, um den Winter angenehm zu überstehen: Ich frage mich, was Du vorhast... ich mache mir Sorgen um meinen Winter, diese hübsche, vielleicht letzte überlebende, baumbestandene Hofanlage mit der niedrigen Miete und zivilisierten Ruhe ist verkauft worden, nachdem der Eigentümer im Mai gestorben war, und es kann sein, daß der neue Mann den ganzen Kram einreißen läßt, um eine dieser gräßlichen »modernen« Kisten mit Selbstbedienungslift (der jeden zu Tode ängstigt), langen Fluren wie Rattengehegen und rundum-Bebauungsplan genehmigt ist, wird er sich vielleicht nicht durchsetzen lassen ... alles für den Fortschritt!

Ich frage mich, was Proust empfunden hat.

Herzlich,       Sag mir, daß es Dir gut geht.

- Djuna Barnes an Natalie C. Barney , nach:   Djuna Barnes, Hinter dem Herzen. Berlin 1994

Rückblick (5)

- Hans Bellmer

Rückblick (6) Mein Vater ist sehr gealtert, er geht gebückt und spaziert an Abenden in der Nähe seines Hauses herum. Ich verkehre nicht bei ihm.

Prokofi versuchte zur Cholerazeit die Ladenbesitzcr mit Pfefferschnaps und Teer zu kurieren und ließ sich dafür bezahlen, doch wurde er, wie ich aus unserer Zeitung erfuhr, mit Rutenschlägen dafür bestraft, daß er, in seinem Fleischerladen thronend, sich übel über die Ärzte ausgesprochen habe. Sein Kommis Nikolka ist an der Cholera gestorben. Die Karpowna aber lebt noch und liebt nach wie vor ihren Prokofi und hat Furcht vor ihm. Wenn sie mich sieht, schüttelt sie jedesmal traurig das Haupt und sagt mit einem Seufzer;

»Dein Leben ist verloren!«  - Anton Tschechow, Mein Leben. Nach (tsch)

Rückblick (7)

Rückblick

  - Heinz Edelmann [?], Titelbild zu (arc)


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