Rübezahl   ihren täglichen Brief ein. Vom Schulhaus her hörte er rezitieren: »Verlaßt mich hier, getreue Weggenossen! Laßt mich allein am Fels, in Moor und Moos! Nur immer zu! Euch ist die Welt erschlossen, die Erde weit, der Himmel hehr und groß; betrachtet, forscht, die Einzelheiten sammelt, Natur-geheimnis werde nachgestammelt.« Es war Adolf Fronten, der Schulmeister. Er war aus der Kantons hauptstadt gekommen und im Dorf hängengeblieben. Schicksalsweisheit, hatte er gemeint, das Dorf sehe aus wie an einen Schattenhang hingeschissen, aber sei ändern Kaffs vorzuziehen, . weil es in ihm keinen Grund gebe, nüchtern zu sein. Er ging gegeen sechzig, ein Hüne mit feuerroten Haaren und einem feuerroten Bart, schneeweiße buschige Brauen über stechend blauen Augen und so voller Sommersprossen, daß er von sich sagte, seine Mutter habe vergessen, ihn bei der Geburt abzutrocknen. Er hatte einmal seltsam zarte Geschichten geschrieben: ›Die Väter des Vaters der Söhne des Zebedäus‹, ›Was wäre, wenn Erzbischof Mortimer schwanger würde?‹, ›Leise, aber fürchterlich‹, ›Die Klage des Viehs und der Weiber‹, ›Das Schweigen der Posaunen von Jericho‹, zusammen kaum fünfzig Seiten, bekam den Matthias-Claudius-Preis, bereiste mit Unterstützung der Pro Helvetia und des Goethe-Instituts Kanada, Ecuador und Neuseeland, verprügelte im Suff einen Erziehungsdirektor und nahm die Stelle eines Dorfschulmeisters im Durcheinandertal an, das er seitdem nicht mehr verließ. War er einer der ersten gewesen, der, von Robert Walser beeinflußt, die treuherzige Kindlichkeit in die eidgenössische Literatur eingeführt hatte, so erklärte Fronten nun seine literarische Produktion für Mist. Zwar hörte er nicht auf zu schreiben. Im Gegenteil. Er schrieb immerzu, schrieb, während er rezitierte, schrieb, während er soff, schrieb auch während der Schulstunden, riß die Blätter vom Block, warf sie weg, überall lagen sie herum, in der Schule, auf der Straße, im Wald jenseits der Schlucht hinter dem Kurhaus. Aber es waren nur noch einzelne Sätze, die er schrieb, >Denkstüt-zen<, wie er sie bezeichnete, Sätze wie »Die Mathematik ist eine Spiegelschrift der Melancholie«, »Die Physik ist nur als Kabbala sinnvoll«, »Der Mensch hat die Natur erfunden«, »Hoffnung setzt die Hölle voraus und bewirkt sie«, aber manchmal schrieb er nur Worte nieder: Eiszeitlose, Apokalypso, Meduselei, Achillesfersengeld. Sein Verleger kam von Zeit zu Zeit, energisch, sportlich, sammelte die Blätter ein, die von den Schulkindern aufgelesen und aufbewahrt wurden, konnten sie doch mit den gefundenen Notizen etwas verdienen. Die ›Denkstützen‹ lagen so schon in fünf Bänden vor. Die Kritik war fasziniert, nur einer behauptete, der noch nicht fünfzehnjährige Conradin Zavanetti vermöge die Handschrift Frontens so täuschend nachzuahmen, daß viele Zettel (»Lehrer furzen hochdeutsch«, »Oben saufen, unten dichten« usw.) von diesem Bengel stammten. Der Verleger kündigte einen Roman an, Fallstricke. Fronten dementierte, wurde menschenfeindlicher. Seine Kollegen vom Schriftstellerverein nannten ihn den Rübezahl vom Durcheinandertal. Er verschwand, wenn Kritiker kamen, Journalistinnen starrte er wortlos an, gefiel ihm eine, riß er sie in seine Wohnung, warf sie aufs Bett, nahm sie und jagte sie wieder aus dem Haus, ohne ein Wort mit ihr gesprochen zu haben.   - Friedrich Dürrenmatt, Durcheinandertal. Zürich 1998
 
 

Riese

 

  Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Synonyme