Romantheorie   Das Erste, was er zu mir sagte, war: »Mittwoch abend halten Sie einen Vortrag über den Roman

Da ich vom Roman keine Ahnung hatte, mußte ich mir rasch etwas ausdenken. Und so entwickelte ich in dieser Nacht im Traum eine Theorie, die sich während der ganzen Fahrt als sehr nützlich herausstellte: Der Roman, eine Form, die ich nie respektiert habe, ist im Grunde ein Striptease. Mit jedem Kapitel legt man, von vorne nach hinten vorgehend, ein Kleidungsstück ab. Je weiter man kommt, desto mehr enthüllt sich das Thema - zum Beispiel eine Becky Sharp -, aber da die Form nicht seriös, sondern bloß ein romantischer Trick ist, gibt es am Ende stets ein Blackout: die Schlacht ist gewonnen oder verloren, oder jemand kommt auf irgendeine Weise ums Leben, und dann ist Schluß.

»O nein!«

»O ja!« gab ich zurück. »Aber wenn man es bis zum (Nylon-) Slip, oder meinethalben bis zürn Suspensorium schafft, einen Finger da reinschiebt und es runterreißt - dann sind wir - hoffentlich - beim Gedicht angelangt.«

»Aber was ist mit Krieg und Frieden? Was ist mit...?« »Horatio Alger?« »Nun, was ist mit Horatio Alger?«

»In einem Roman wird immer etwas entblößt - bis zu einem gewissen Punkt. Das verborgene Talent, das verborgene Verbrechen - Raskolnikow - der unsichtbare Kern wird am Anfang verschleiert. Aber nie die Tatsachen, nie die darunterliegende Nacktheit patriotischer oder ökonomischer Zwänge oder irgendeine andere Wirklichkeit. Das geht nicht. Es ist ein Roman, eine romantische Ziertapete.«

»Einspruch.«

(Den Zuhörern gefiel die Idee, auch wenn sie sie reichlich schockierend fanden.)

»Sehen Sie«, fuhr ich fort, »ursprünglich gab es keine Romane. Am Anfang stand das unbekleidete Gedicht. Zum Roman kommt man erst, wenn man die grausame Nacktheit zu verhüllen beginnt; wenn man sich Kleider macht. Carlyle hat das erkannt und ausgesprochen (soweit der Ärmste in seiner viktorianischen Umgebung dies wagen durfte), und zwar in Sartor Resartus, diesem entsetzlichen Bild von einem nackten Parlament. Können Sie sich vielleicht einen Henry James vorstellen, der ohne Korsetts und Gehröcke und gestreifte Hosen ausgekommen wäre? Ich nicht. Zu einem Roman brauchen wir zunächst einmal Kleider, Kleider, die dann wieder abgelegt werden können - freilich nicht alle. Der Roman kommt in Gang, wenn unsere bekleideten Menschen sich im Lauf der Zeit in Kleiderständer verwandeln.  - (wcwa)

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